Das Schloss der tausend Sünden
Telefon überleben? Es war einfach nicht zu fassen.
«Dann sitzen wir also fest», entfuhr es ihr niedergeschlagen. Sie mussten notgedrungen versuchen, das Auto ohne Hilfe wieder in Gang zu bringen. Oder sie würden ins nächste Dorf wandern müssen, um dort einen Abschleppdienst und ein Telefon zu finden. Paula würde sicher sauer werden, wenn sie sich nicht bald bei ihr meldeten.
«Könnten Sie mir dann wohl bitte den Weg ins nächste Dorf erklären?» Sie war versucht, den blonden Hünen zu fragen, ob er nicht ein Auto hätte, mit dem er sie dorthin fahren würde. Doch diese Bitte schien ihr etwas zu gewagt.
Der Mann schüttelte erneut den Kopf und lächelte wieder. Das Grinsen ging Belinda langsam auf die Nerven. Unter anderen Umständen hätte sie den stummen Blondschopf mit seinem gemeißelten Alabasterkörper sehr attraktiv gefunden, doch sein scheinbarer Widerwillen gegen jede Art von Kooperation wurde immer lästiger.
«Jetzt kommen Sie aber», rief sie aufgebracht, «Sie werden mir doch wohl sagen können, in welche Richtung wir gehen müssen.»
Der blonde Riese lächelte immer weiter, doch in seinen Augen stand ein seltsam wehmütiger Ausdruck geschrieben. Während Belinda ihn noch in der Hoffnung auf eine Antwort anstarrte, machte er eine kurze, hackende Bewegung vor seinem sehnigen Hals. Er wiederholte diese Geste und schüttelte dabei langsam den Kopf.
Oh mein Gott, er ist stumm!, erkannte Belinda mit einem Mal und fühlte sofort eine Welle des Mitgefühls insich aufsteigen. Der arme Mann. Wie schrecklich. Was für eine grausame Behinderung.
«Es tut mir schrecklich leid», beeilte sie sich zu versichern, «ich wusste ja nicht, dass Sie nicht sprechen können!»
Der Mann zuckte erneut mit den Schultern.
Was zum Teufel machen wir denn jetzt?, fragte sich die junge Frau verzweifelt. Hätte sie doch nur ihren Terminkalender mitgenommen, dann hätte sie etwas zum Schreiben gehabt. Aber ob ihr eingeschränkter Adonis überhaupt schreiben konnte?
Während sie noch nachdachte, machte ihr stummer Gastgeber eine Geste, die «einen Moment» zu bedeuten schien, und ging zu einem mit aufwändigen Schnitzereien versehenen Tischchen. Aus einer Schublade zog er einen dicken Block Papier und einen Stift. Dann grinste er seine Besucherin an, als wollte er ihr mitteilen, dass er ihre Gedanken gelesen hätte, und begann zu schreiben.
Mein Name ist Oren, las sie, als er ihr den Zettel reichte. Die Buchstaben waren schlicht und abgerundet, aber sehr gut lesbar. Es tut mir sehr leid, dass wir kein Telefon haben, aber an diesem Ort besteht einfach kein Bedarf dafür. Wenn Sie etwas essen, ein Bad nehmen oder sich ein wenig ausruhen möchten, heißt mein Herr Sie in seinem Zuhause herzlich willkommen.
Wie kann er seine Gastfreundschaft anbieten, wenn er nicht mal weiß, dass wir hier sind?, war Belindas erster Gedanke. Oder gehörte die Bewegung, die sie vorhin an einem der oberen Fenster gesehen hatte, doch zu einem heimlichen Beobachter?
Aber schon ihre nächsten Gedanken waren praktischerer Natur. Zwar hatte Belinda die letzte Nacht gut geschlafen, aber die Aussicht auf ein Bad – vorzugsweise ein stundenlangesEinweichen in duftendem Schaum – tauchte wie eine Oase in der Wüste vor ihrem inneren Auge auf. Plötzlich merkte sie auch, welchen Heißhunger sie hatte. Die letzte Nahrung, die sie zu sich genommen hatte, war eine kleine Tüte Chips gestern Abend um sieben! Die Vorstellung eines übervollen Tellers mit Croissants, Butter und Erdbeermarmelade wurde zu einer zweiten Oase, die ihr ebenso lebendig wie verlockend erschien.
«Das ist sehr freundlich, Oren», sagte sie und lächelte ihn ein wenig unsicher und zugleich überrascht von einem derart großzügigen Angebot an. Eigentlich wollte sie es so höflich wie möglich ablehnen, hörte sich stattdessen aber sagen: «Ich würde sehr gern ein Bad nehmen und bin fast am Verhungern. Ich muss nur kurz zurück in den Pavillon gehen und Jonathan holen …»
Oren drehte sich wieder zu dem Tischchen um und schrieb seine Antwort auf ein neues Blatt Papier.
Das wird nicht nötig sein. Jemand wird Ihren Freund abholen und zu Ihnen bringen. Ich zeige Ihnen jetzt, wo Sie Ihr Bad nehmen können.
Als Belinda die kurzen Sätze gelesen hatte, deutete ihr stummer Begleiter auch schon auf die eindrucksvolle Treppe am Ende der Halle und gab ihr mit einer weiteren Geste zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte.
Die junge Frau zögerte. Das war doch verrückt …
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