Das Schmetterlingsmädchen - Roman
von ihrer unglücklichen Mutter eingepflanzt worden war. Cora würde es nie erfahren. Es bestand die Möglichkeit, dass weder Myra noch Mr. Flowers Louise je wirklich verändert hatten. Vielleicht war ihr schon vorherbestimmt, das zu sein, was sie sein würde, getrieben von Sehnsucht und einem Zorn, der ebenso Teil ihrer selbst war wie ihr schönes Gesicht.
Cora warf einen Blick auf den Bücherstapel neben dem Bett. Eines der Bücher trug keinen Titel auf dem Rücken. Eines war von Nietzsche. Das unterste war von Schopenhauer, eines seiner Werke, das Cora nicht gelesen hatte. Zum ersten Mal fragte sie sich, was aus Louise geworden wäre, wenn ihr Gesicht ein bisschen anders geraten wäre – eine nicht so perfekte Nase, kleinere Augen, ein vorstehendes Kinn. Vielleicht wäre sie eine unverheiratete Bibliothekarin oder Lehrerin, glücklich, weil sie von Büchern umgeben war.
»Warum, Louise? Warum bist du ausgerechnet hierhergekommen? Pleite kannst du überall sein.«
Louise starrte sie verständnislos an.
Cora beugte sich vor. »Du empfindest nichts für dieses Haus. Und auch nicht für diese Stadt. Das hast du noch nie. Warum bist du zurückgekommen wie eine heimwehkranke Brieftaube, die sich nach dem Käfig sehnt?«
Louise sah weg und wieder zu Cora. Sie schien ebenso betroffen wie verärgert. »Es ist mein Zuhause. Hier gehöre ich her.«
»Papperlapapp!« Cora schlug erbost an die Seite der Matratze, aber ihre Aktion entlockte Louise nur das vertraute herablassende Lächeln. Wahrscheinlich hätte sie »Scheißdreck« sagen oder einen ähnlichen Kraftausdruck verwenden sollen, dachte Cora, aber sie konnte eine vulgäre Redeweise immer noch nicht ausstehen. Louise konnte lächeln, so viel sie wollte. Sie wusste, was Cora meinte.
»Du gehörst nicht hierher, wenn du unglücklich bist«, fuhr sie fort. »Deine Mutter macht dich wütend, und du machst deine Mutter wütend. Es ist egal, ob sie deine Mutter ist. Eltern sind reiner Zufall. Es hat kaum etwas zu bedeuten.« Sie starrte auf den Teppich, auf die verschlungenen Muster. »Du gehörst dorthin, wo du die besten Chancen hast, glücklich zu werden, Louise. Du magst Hollywood nicht? Schön. Dann geh nicht wieder dorthin. Aber bleib nicht hier. Geh woandershin, auch wenn Myra im Sterben liegt. Geh an einen Ort, wo du dir vorstellen kannst, glücklich zu werden. Steig in den Zug und fahr!«
Cora wandte ein wenig atemlos den Blick ab. Sie war so wütend! Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte Louise an den Schultern gepackt und geschüttelt. Aber sie hatte schon alles getan, was sie konnte. Wie oft hatte sie sich im Haus der Güte genauso hilflos gefühlt. Sie konnte argumentieren, so viel sie wollte, aber sie konnte nicht in die Köpfe der Leute vordringen und das Kommando übernehmen. Die Leute taten, was sie wollten.
»Ich bin zu alt«, flüsterte Louise. »Ich bin total verbraucht. Ich bin nicht mal mehr ich selbst.«
»Wie bitte?« Cora blickte auf und starrte sie ungläubig an. »Louise, wie alt bist du?«
»Sechsunddreißig.«
Cora bemühte sich, nicht zu lachen. Es schien so jung, so unglaublich jung. Aber war sie genau in dem Sommer, als sie nach New York fuhren, nicht auch sechsunddreißig gewesen und hatte sich vor der Abfahrt uralt gefühlt, nahezu gebrochen, nahezu hoffnungslos? Sie hatte nicht geahnt, was das Leben noch für sie bereithielt – Joseph, Greta, ihre Enkelkinder, ihre neue Liebe zu Alan, zu Raymond. Die Hände, die sie im Haus der Güte gehalten hatte.
»Du bist nicht verbraucht, Louise. Ich kenne dich. Ich erinnere mich an dich. Ich bin überzeugt, dass noch sehr viel von dir da ist.«
Louise starrte sie ausdruckslos an. Unmöglich zu erraten, was ihr durch den Kopf ging. Unten lachte Zana, und die Insektengittertür wurde zugeschlagen. Louise sah auf ihre Uhr.
Cora hielt sich am Bettgestell fest und hievte sich hoch. Eine Abmachung war eine Abmachung, und ihr gingen ohnehin die Argumente aus. Aber bevor sie ging, gab sie einem Impuls nach, indem sie sich bückte und Louise auf den Scheitel küsste, genau wie sie es bei ihren Söhnen und später bei Greta gemacht hatte, wenn sie ihnen Gute Nacht sagte.
Sie fand sich damit ab, nie zu erfahren, welche Wirkung – wenn man überhaupt davon sprechen konnte – ihr Besuch auf Louise hatte. Sie wusste, dass sie anfangen konnte, jeden Morgen in der Zeitung in der Rubrik Verhaftungen Louises Namen zu suchen. Dann würde sie wenigstens wissen, dass sie mit ihrem Versuch
Weitere Kostenlose Bücher