Das Schneemädchen (German Edition)
schwerer und ihre Seufzer hörbarer. Am Ende würde sie nachgeben, doch der Riss würde breiter und tiefer werden. Jack wusste das, fand jedoch nicht die Kraft, es aufzuhalten. Er flüchtete sich in den Stall und zum Holzstoß und ließ Mabel mit ihren Seufzern allein.
Die nächsten Tage arbeitete er im Stall oder Hof, obwohl er eigentlich einen Haufen Baumstümpfe auf den Feldern hätte verbrennen müssen. Er beobachtete die Bäume und suchte im Schnee nach Fußspuren. Wenn die Kleine wiederkommt, sagte er sich, werde ich ihr nicht nachlaufen. Ich will sie nicht verscheuchen.
Ungefähr eine Woche später tauchte sie neben Jack auf, und er verfolgte sie nicht, sondern ging seiner Arbeit nach, als sei sie nicht da. Er stapelte gespaltenes Holz neben dem Stall, einen Klotz nach dem anderen. Schließlich setzte das Mädchen sich auf einen Fichtenstumpf und sah ihm zu. Als es dämmerte, brachte Jack Hammer und Axt in den Stall. Das Mädchen folgte ihm mit wenigen Schritten Abstand und blieb an der Stalltür stehen. Als er wieder herauskam, stand sie da und sah ihn mit ihren großen blauen Augen an. Er ging an ihr vorbei, scheinbar ohne von ihr Notiz zu nehmen. Über die Schulter rief er dann: «Zeit zum Abendessen. Gehen wir hinein.»
Und das Mädchen folgte ihm. Er hielt ihr die Haustür auf. Sie trat behutsam ein, als könne der Fußboden unter ihr nachgeben, aber sie kam mit. Als sie über die Schwelle ins Warme trat, schmolz die dünne Reifschicht auf ihrem Mantel. Jack sah zu, wie die Eisstückchen auf ihren Mokassins zergingen und das Eis auf ihren Wimpern zu Tropfen wurde. Die Augen des Kindes blieben nass, als hätte es geweint.
Mabel machte sich mit dem Rücken zu ihnen an der Küchenanrichte zu schaffen. Jack schloss die Tür.
«Ich glaube, wir müssen Holz nachlegen», sagte sie und drehte sich mit einem Topf Kartoffeln in den Händen um. Als sie das kleine Mädchen neben Jack erblickte, formten sich ihre Lippen zu einem kleinen Kreis, als wollte sie einen Laut von sich geben, doch stattdessen entglitt ihr der Topf mit den Kartoffeln.
«Oh, oh.» Mabel starrte auf ihre durchnässten und mit Kartoffelstückchen bedeckten Füße. «Oje.» Das Mädchen war zurückgewichen, erschrocken über das Getöse des auf den Boden schlagenden Topfs, doch jetzt, in der Stille, entwich ihm ein leises Kichern, und es hielt sich die roten Fäustlinge vor den Mund.
Mabel sammelte geschwind die Kartoffeln zurück in den Topf und saugte das Wasser mit einem Handtuch auf, ohne dabei das Kind aus den Augen zu lassen.
«Ich kann dir den Mantel abnehmen», sagte Jack.
Das Mädchen zog die Fäustlinge aus, und als er sie ihr abnehmen wollte, holte sie etwas aus ihrer Manteltasche. Es war ein kleines Tier mit weißem Fell und schwarzer Nase, und Jack war darauf gefasst, dass es sich entwinden und ihr aus der Hand springen würde. Es war jedoch ein lebloser Pelz, von der Schnauze bis zum Schwanz keine dreißig Zentimeter lang.
«Ein Hermelin?»
Das Kind nickte und hielt es ihm hin. Die trockene Haut unter dem Fell war knittrig wie Pergamentpapier. Mabel trat neben Jack, berührte die winzigen toten Augenlider und die borstigen Barthaare. Sie fuhr mit den Fingern über das weiße Fell bis zu der schwarzen Schwanzspitze.
«Was für ein hübsches Fell», sagte sie und wollte es dem Kind zurückgeben. Aber das schüttelte den Kopf.
«Steck es wieder ein, damit du es nicht vergisst.»
Wieder ein ganz knappes Kopfschütteln, ein zartes Lächeln.
«Sie möchte, dass wir es behalten», flüsterte Mabel.
«Ist das wahr? Ist es für uns?»
Ein Lächeln.
«Ganz bestimmt?», fragte Jack.
Ein heftiges Nicken.
Er hängte das Hermelin an einen Haken beim Küchenfenster und strich mit dem Handrücken über das weiße Fell. Mabel beugte sich zu dem Kind hinunter. «Danke schön.»
«Komm.» Jack rückte einen Stuhl zurecht. «Du kannst hier sitzen.»
Das Mädchen setzte sich, Mantel und Fäustlinge auf dem Schoß, die Marderfellmütze noch auf dem Kopf.
«Soll ich dir die Sachen nicht abnehmen?», fragte er.
Das Mädchen sagte nichts.
«Gut. Wie du willst.»
Mabel stellte einen Teller mit Elchsteaks mitten auf den Tisch, sah Jack fragend an und hob die Augenbrauen. Er zuckte fast unmerklich die Achseln.
«Kartoffeln gibt es dann wohl nicht, was?» Mabel sah das Mädchen an und lächelte. «Wir haben aber noch etwas von dem grässlichen Schiffszwieback. Der muss genügen. Und gekochte Möhren.»
Kapitel 12
Nie hatte Mabel
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