Das Schneemädchen (German Edition)
ihr folgen, doch ein eisiger Nebel durchzog den Wald. Winzige Eiskristalle schwebten in der Luft und sammelten sich als Raureif auf Ästen und Jacks Wimpern. Er konnte in dem Nebel nur wenige Schritte weit sehen. Hin und wieder blieb er stehen, beugte sich nach vorn, stützte die Hände auf die Knie, und der Schweiß gefror auf seiner Stirn. Wenn sein schwerer Atem dann ruhiger ging, hörte er nur den Schnee unter seinen Stiefeln knirschen. Von dem Kind kam kein Laut. Zweige knackten, aber es war lediglich ein Schneeschuhhase, der durch die Erlen sprang, und später, als die Nacht einbrach, schrie weit entfernt eine Eule. Das Mädchen hörte er nicht. Zeitweise war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er ihr noch folgte oder sich blindlings durch die Bäume schlug wie ein verhexter Wahnsinniger. Dann wieder sah er sie direkt vor sich, als wollte sie bemerkt werden.
Er wusste nicht mehr, wie weit er gekommen oder wie lange er schon unterwegs war, aber er ging weiter, vorbei an seinem fünfundsechzig Hektar großen Besitz, hinauf in die Gebirgsausläufer, wo er auf Elchjagd gewesen war, und weiter bis auf die Höhe, wo die Bäume Birkengestrüpp und Sumpfporst wichen. Er folgte einem Kamm, von dem man das verschneite Flusstal überblickte, erklomm dann einen Hang, bis er sich in einer engen Gebirgsschlucht mit steilen Schieferwänden befand.
Ein unheimlicher Windstoß fegte die Schlucht hinab. Weiter oben sah Jack einen gefrorenen Wasserfall, der zwischen den Felswänden vom Berg stürzte. Unter ihm sprudelte und gluckerte der Bach unter dem Eis und wand sich durch Gestein und Weiden.
Vorsichtig folgte er den Spuren des Mädchens schluchtaufwärts, bis sie im verschneiten Berghang verschwanden. Es war unbegreiflich – doch die Spur führte nicht weiter bergan oder am Bach entlang, sondern in den Berg hinein. Dann bemerkte er so etwas wie ein kleines Tor, das unter einer runden Schneekuppel in den Berg hineinführte. Jack kauerte sich hinter einen Gesteinsbrocken, kalten Schweiß im Nacken.
Er hätte zu dem Türchen gehen und nach dem Mädchen rufen können, tat es aber nicht. Was glaubte er vorzufinden? Ein Märchen-Untier, das junge Mädchen in einer Berghöhle gefangen hält? Eine keckernde Hexe? Oder gar nichts, kein Kind, keine Fußspuren, kein Türchen, nur nackten Wahnsinn im unberührten Schnee? Das fürchtete er vielleicht am meisten: feststellen zu müssen, dass er einer bloßen Illusion gefolgt war.
Statt sich dieser Möglichkeit zu stellen, kehrte Jack dem Türchen den Rücken und machte sich auf den Heimweg. Eine Weile folgte er den Spuren. Zeitweise waren es zwei verschiedene, die kleinen Abdrücke von dem Kind und die größeren von ihm. Dann wieder gab es nur seine eigenen, und Jack wurde klar, dass er die der Kleinen vermutlich mit seinen großen Stiefeln verwischt hatte, als er ihr folgte. Der Anblick seiner einsamen Spuren, die sich zwischen den Bäumen wanden, bereitete ihm allerdings Unbehagen. Als es dunkler wurde, fürchtete er, die mäandernde Spur würde ihn bis in die kältesten, schwärzesten Stunden der Nacht in den Wald bannen, weswegen er die Spur verließ und direkt auf den Wolverine River unten zuhielt. Dann konnte er dem Flusslauf folgen und, so hoffte er, binnen einer Stunde zu Hause sein.
Doch der Weg erwies sich als schwierig; er zwang ihn hinab in tiefe Schluchten, wo ihm der Schnee bis weit über die Knie reichte, und durch einen dichten Schwarzfichtenwald, in dem er die Orientierung zu verlieren drohte. Dass er den Fluss erreicht hatte, merkte er erst, als er schon ein Stück auf dem Eis gegangen war und das Tosen unter sich vernahm. Er bewegte sich vorsichtig rückwärts, bis er sicher war, auf festem Grund zu sein, dann ging er flussabwärts und verließ sich darauf, dass ihn der vage Umriss des Flussbetts nach Hause führen würde.
Er konnte sich denken, dass Mabel auf ihn wartete und Antworten forderte. Das war einleuchtend, doch es zehrte an seinen Nerven. Er war erschöpft, hatte Schmerzen und bestimmt Erfrierungen, und er könnte ihr nichts bieten als einen müden alten Mann, der in seinen Stiefeln zitternd vor dem Türchen eines Kindes kauerte.
Am nächsten Morgen erwachte Jack von Mabels Hantieren im Haus. Geschirr klapperte, ein Besen kratzte, es polterte und holperte – unverkennbare Anzeichen ihres Zorns. Jack erhob sich vorsichtig aus dem Bett.
Sie gingen ihrem jeweiligen Tagwerk nach, doch Mabels Zorn schien nur noch zu wachsen, ihre Schritte wurden
Weitere Kostenlose Bücher