Das Schneemädchen (German Edition)
Keine Spuren hatten in den Hof geführt.
Dann waren da die Eisblumen, die sich am Fenster gebildet hatten, während sie und Jack zusahen, und der Schneesturm, der sie, Mabel, nach Hause geweht hatte, als sie den toten Vogel gefunden hatte. Vor allem aber war da das Kind selbst, sein Gesicht ein Spiegelbild von dem, das Jack aus Schnee geformt hatte, die Augen wie Eis. Es war phantastisch und unmöglich, aber Mabel wusste, es war wahr – sie und Jack hatten das Mädchen aus Schnee, Birkenzweigen und gefrorenen Grashalmen geschaffen. Die Wahrheit flößte ihr Ehrfurcht ein. Das Kind war nicht nur ein Wunder, es war ihre Schöpfung. Man erschafft nicht ein Leben und gibt es dann der Wildnis preis.
Wenige Tage nachdem das Körbchen auf ihrer Türschwelle erschienen war, beschloss Mabel, ihrer Schwester zu schreiben, die noch in ihrem Elternhaus in Philadelphia wohnte. Vielleicht war das Buch ja auf dem Dachboden bei den Truhen mit Kleidung und Erinnerungsstücken, die sich dort mit den Jahren angesammelt hatten.
Sie setzte sich an den Tisch – im Ofen backte ein Laib Brot – und empfand den Akt des Schreibens als beruhigend. Es gab ihr etwas Sinnvolles zu tun. Wenn das Buch vorhanden war und ihre Schwester es fände und ihr schickte, würde dies einen Sinn haben, davon war Mabel überzeugt. Das Buch würde ihr das Schicksal des alten Mannes und der alten Frau verraten und des Kindes, das sie aus Schnee geboren hatten.
«Meine liebste Schwester! Ich hoffe, dieser Brief trifft Dich bei guter Gesundheit an. Bei uns hier hat jetzt der Winter Einzug gehalten», begann sie.
Sie erzählte von dem Schnee und den Bergen und ihren neuen Freunden, den Bensons. Sie fragte nach den Kindern ihrer Schwester, die schon erwachsen waren, und nach dem Elternhaus. So beiläufig, wie sie konnte, erkundigte sie sich dann nach dem Buch.
«Erinnerst Du Dich daran, liebe Ada? In meiner Kindheit zählte es jahrelang zu meinen Lieblingsbüchern. Ich glaube, es hatte einen blauen Ledereinband, aber von der Geschichte weiß ich nur noch wenig – nicht einmal den Titel. Es ist sicherlich ein Ding der Unmöglichkeit, um was ich Dich da bitte, aber der Versuch, mir Einzelheiten des Buches in Erinnerung zu rufen, hält mich so quälend auf. Es ist, wie wenn einem ein Name auf der Zunge liegt, man weiß ihn, aber er will einem nicht einfallen. Ich hoffe nur, ich habe Glück und Du erinnerst Dich an das Buch, das ich im Sinn habe, oder besser noch, Du weißt, wo Du es in dem Durcheinander von Truhen auf dem Dachboden finden kannst.»
Mabel fragte ihre Schwester auch, ob sie ihr wohl Stifte schicken könne, da sie beabsichtige, ihren einstigen Zeitvertreib wiederaufzunehmen, aber nur noch ein paar Stummel in ihrem Zeichenkasten habe.
Sie klebte den Brief zu, legte ihn beiseite, trat an den Ofen, nahm das Brot heraus, prüfte mit einem leichten Daumendruck, ob es gar war, und schob es wieder hinein. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sah Jack am Holzstoß. Und dann sah sie das kleine Mädchen.
Es stand nicht weit entfernt bei den Bäumen. Jack hatte es nicht bemerkt. Er hatte seinen Mantel ausgezogen und spaltete einen Klotz nach dem anderen, indem er den schweren Spalthammer über den Kopf schwang und dann ins Holz niederkrachen ließ. Das Mädchen sah ihm zu, schlich dann näher heran, versteckte sich hinter einer Birke und spähte um den Baumstamm herum. Sie hatte wieder den mit weißem Pelz besetzten blauen Wollmantel an. Darunter erblickte Mabel jetzt ein hellblaues geblümtes Kleid, das ihr bis unter die Knie reichte, und hohe Stiefel oder Mokassins aus Leder und Fell von irgendeinem Tier.
Mabel schritt am Fenster auf und ab. Sollte sie zur Tür gehen und zu Jack hinüberrufen, oder sollte sie warten, bis er die Kleine selbst sah? Sie war so nahe, und Mabel wollte sie nicht verscheuchen. In dem Moment hob Jack den Kopf und sah das Mädchen. Es war keine zwölf Meter von ihm entfernt. Mabel hielt den Atem an. Sie sah Jack sprechen, konnte aber seine Worte nicht hören. Das Mädchen rührte sich nicht. Jack trat auf sie zu und streckte seine Hand nach ihr aus. Sie wich zurück, dann sagte Jack wieder etwas. Es war vom Fenster aus schwer zu erkennen, aber Mabel meinte, das Mädchen eine Hand in einem roten Fäustling heben und zaghaft winken zu sehen. Die Scheibe beschlug von Mabels Atem. Sie wischte sie mit der Hand blank und sah gerade noch, dass das Mädchen sich umdrehte und in den Wald lief. Jack stand regungslos da, die Arme
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