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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eowyn Ivey
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sich vorgestellt, dass das kleine Mädchen einmal bei ihnen sitzen würde, hier an ihrem Küchentisch. Wie war es dazu gekommen? Der Augenblick verging unwirklich schnell und langsam zugleich, wie ein Traum. Sie stellte einen leeren Teller vor die Kleine hin und bekämpfte den Drang, ihre Hand zu nehmen, sie anzufassen und zu sehen, ob sie leibhaftig war. Mabel und Jack setzten sich auf ihre Plätze. Er faltete die Hände im Schoß und senkte den Kopf. Sie tat desgleichen, musste dabei aber fortwährend das Mädchen ansehen.
    Sie war noch kleiner, als es von weitem ausgesehen hatte, und die Stuhllehne ragte hoch über sie hinaus. Im Mantel hatte sie fast pummelig gewirkt, wie sie durch die Bäume gehastet war, nun aber sah Mabel die dünnen Ärmchen und schmalen Schultern. Sie hatte wieder das Baumwollkleid mit den Blümchen an, und jetzt erkannte Mabel, dass es das Sommerkleid einer erwachsenen Frau war. Darunter trug sie ein langärmeliges Unterhemd; es war ihr zu klein, die Ärmel reichten nicht bis zu den dünnen Handgelenken. Das Mädchen hatte weißblonde Haare, und in die Strähnen waren graugrüne Flechten, gelbe Wildgräser und geringelte Birkenrindenstücke eingeflochten. Das war sonderbar und hübsch, wie das Nest eines Wildvogels.
    «Lieber Gott», begann Jack. Das Mädchen schloss die Augen nicht und senkte auch nicht den Kopf, sondern sah Jack unverwandt an. Fein geschwungene Lippen, zarte Knochen unter rundlichen Kinderwangen, eine kleine Nase – Mabel musste an das Gesicht denken, das Jack in den Schnee geschnitten hatte. Das Gesicht des Mädchens war süß und kindlich, es lag aber auch etwas Entschlossenes in den blitzenden blauen Augen und dem spitzen Kinn.
    «Wir danken dir für dieses Essen und für dieses Land …» Jack hielt inne. Mabel konnte sich nicht erinnern, dass er seine Worte für ein Tischgebet jemals so sorgsam gewählt hatte. «Wir bitten dich, sei, während wir diese Mahlzeit teilen, mit uns und mit … mit diesem Kind, das sich zu uns gesellt hat.»
    Das Mädchen machte die Augen weit auf und schaute mit zusammengepressten Lippen von Jack zu Mabel.
    «Amen.»
    «Amen», wiederholte Mabel. Die Kleine, die Hände in ihrem Mantel vergraben, sah zu, wie Mabel auf jeden Teller ein Elchsteak legte. Dann beugte sie sich ein wenig nach vorn, als wollte sie das Fleisch begutachten.
    «Oh. Ich muss den grässlichen Zwieback noch holen.» Mabel stand auf, trat hinter das Mädchen und blieb einen Moment stehen, um ihren Duft einzuatmen – frischer Schnee, Bergkräuter und Birkenzweige. Mabel berührte mit den Fingerspitzen ganz leicht die Haare des Mädchens. Vielleicht war es doch kein Traum.
    Als Jack und Mabel zu essen anfingen, aß auch das Mädchen. Sie nahm einen Schiffszwieback in die Hand, schnupperte vernehmlich daran und legte ihn wieder hin. Mabel lachte. «Ich stimme dir zu», sagte sie und legte ihren eigenen Zwieback beiseite.
    Darauf nahm das Mädchen das Fleisch mit den Händen, roch daran und biss hinein. Als sie sich von Jack und Mabel beobachtet sah, legte sie es wieder hin. Jack nahm Messer und Gabel, schnitt Happen von seinem Steak ab und aß sie.
    «Es ist recht so, Liebes», sagte Mabel. «Du kannst es essen, wie du willst.»
    Das Mädchen zögerte, nahm das Fleisch dann wieder in die Hand. Mabel hatte erwartet, dass sie es hinunterschlingen würde wie ein halbverhungertes Tierjunges, aber nein, sie aß zierlich, knabberte hier und da, verzehrte aber jeden Bissen, sogar die Knorpel, die das Fleisch durchzogen. Danach nahm sie jede Möhrenscheibe einzeln und kaute sie bedächtig. Ihr Teller war schon leer, als Jack und Mabel noch ihr Fleisch schnitten.
    «Möchtest du noch etwas? Nein? Ganz bestimmt nicht? Es ist genug da.»
    Mabel sah mit Schrecken, dass das Mädchen hochrote Wangen bekommen hatte. Die Augen waren glasig, als hätte sie Fieber.
    «Dir ist zu warm, Kind», sagte Mabel. «Gib mir deinen Mantel. Und die Mütze.»
    Das Mädchen schüttelte entschlossen den Kopf. Auf ihrem Nasenrücken hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, und ein dicker Tropfen rollte an ihrer Schläfe herunter.
    «Mach die Tür auf», flüsterte Mabel Jack zu.
    «Was?»
    «Die Tür. Mach sie einen Spalt auf.»
    «Was? Draußen sind fast zwanzig Grad unter null.»
    «Bitte», flehte sie. «Siehst du nicht? Es ist viel zu heiß für sie hier drinnen. Geh schon – mach die Tür auf!»
    Jack gehorchte und klemmte ein Stück Feuerholz als Keil unter die Tür, damit sie offen

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