Das schönste Wort der Welt
jenen
wachsenden Bauch, dick und so weiß wie die mittelalterlichen Steinsärge, die
ich am Morgen gesehen hatte, mit ihrer eingemeißelten Blumensymbolik und ihrer
Kosmogonie, von Gewehrsalven zerstört. Das Symbol wollen sie töten … Das Symbol , sagte Gojko. Und nun wusste ich,
dass dieser Bauch Sarajevo war.
Diego pfeift, er
schiebt die Zunge zwischen die Zähne und ahmt das Pfeifen der Granaten nach. Er
schickt keine Filme mehr weg, so wie früher, als er sie irgendeinem
Journalisten mitgab, der nach Italien zurückkehrte. Von Wind und Frost sind in
der grünen Plastikplane am Fenster nun kleine Risse, und durch diese Risse
schiebt Diego das Objektiv, wie es die Scharfschützen mit den Gewehrläufen tun,
er richtet seinen Körper aus und sucht sich ein Ziel, einen Passanten. Doch
häufig drückt er ab, ohne überhaupt einen Film in der Kamera zu haben. Wenn ich
ihn darauf aufmerksam mache, zuckt er mit den Schultern.
»Na und«, sagt er.
»Ist doch scheißegal.«
Wir reden nicht mehr
über das Danach, eingekapselt in der Gegenwart lassen wir die Stunden
verstreichen. Wir sind wie alle anderen Gefangenen dieses Tales, wir sind uns
keineswegs sicher, dass wir bis morgen durchhalten. Diese Ungewissheit ist mir
nicht unangenehm, es ist, als liefe man auf Wellen. Hauptsache, er ist bei mir.
Doch eigentlich verstecken wir uns voreinander, und diese Belagerung ist
unsere, ein harter Vorhang, der uns vor uns selbst schützt. Es ist verboten,
nachts mit der Taschenlampe rauszugehen, doch Diego zieht oft los, er wälzt
sich aus dem Bett. Mit seinem langen Bart, der inzwischen über den Hals reicht,
und seinen schmerzenden Augen wirft er sich hin und her, er sagt, nachts könne
er nicht schlafen. Verstört streift er durch das Gerippe dieser zerfressenen
Stadt, es ist, als tauchte er direkt in den Körper des Todes ein.
Ich berühre seine
magere Brust, er schiebt meine Hände weg, die ihm die Bleiweste hinhalten,
diese Last kann er nicht tragen. Sein Rücken ist steif geworden, erwachsen. Für
Dummheiten und Liebesduette ist keine Zeit mehr.
Am meisten fehlt mir
die alberne Hingabe des Danach. Als Diego mir die Haare aus dem Nacken strich
und mich stundenlang küsste, in die Vertiefung zwischen den Knochen am Haaransatz,
wo nach seinen Worten noch immer der Duft meiner Geburt wehte.
Ich warte nicht mehr
auf den Tag der Auferstehung, des Flugzeugs, das uns wegbringt. Vielleicht
kommen wir ja nie mehr nach Hause und sterben zusammen mit dieser Stadt, in der
wir uns kennengelernt haben. In der wir uns zum ersten Mal geliebt haben, im
Bett von Gojkos Mutter, vor einer leeren Wiege. Ich hätte etwas auf dieses
Zeichen geben sollen, das längst unser Schicksal war.
Über Aska sprechen
wir nie. Sie bewegt sich im Hintergrund, wohnt in jenem Randbezirk, der stärker
zerstört ist als die anderen, und will nicht von dort weg, es ist nicht schwer,
sie zu vergessen. Doch Diego ruft nachts nach ihr, er heult wie ein verwundeter
Hund und fährt im Bett auf. Das ist der Grund, weshalb er nicht schlafen kann.
Er hat Angst, sie könnte getroffen werden, mit ihr würde auch ihr gemeinsames
Kind sterben. Na bitte, jetzt habe ich es gesagt: ihr Kind. Wie gern hätte ich Jovans Mut, würde ich auf einen
Scharfschützen zugehen, mit offenen Armen wie ein Engel. Doch das hier ist
nicht meine Stadt, ist nicht mein Sarg. Ich versinke in den kalten Betttüchern,
wir sind in einem zugefrorenen See begrabene Fische. Von der Tiefe blind
gewordene Fische, wir ziehen dicht aneinander vorbei, ohne uns zu begegnen.
Diego sagt, mit Aska
habe das nichts zu tun. Er würde auch so bleiben, er kann diese Menschen nicht
im Stich lassen, kann jetzt nicht woanders leben. Jetzt, da er diesen Schmerz
kennt, da er versucht hat, sich davon loszureißen, es aber nicht geschafft hat.
Das Leben ist hier,
zwischen diesen vereisten Trümmern. Und nie zuvor hat er das so stark
empfunden. Das Leben ist Khalia, die Kleine, die den Schlitten mit ihren
Geschwistern darauf zieht, winzig wie Kaninchen, und es ist Izet, der Alte, der
jeden Tag zu seinem geschlossenen Laden in die Baščaršija geht und sich gegen den verbeulten Rollladen lehnt, das Leben ist
auch die Blumenfrau, die imaginäre Sträuße verkauft.
Diego sagt unentwegt Mach, dass du von hier wegkommst, fahr nach
Hause zurück .
Doch ich kann nicht ohne ihn weg, ohne diese Liebe, die er jetzt wie
Vogelfutter auf den Straßen von Sarajevo verstreut.
»Du brauchst mich
nicht, du kommst bestens allein
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