Das schönste Wort der Welt
klar.«
Er verbringt die Tage
damit, nach Wasser anzustehen und die Kanister in die Wohnung alter Leute zu
tragen, zu den Schwachen, die allein geblieben sind. Er baut Öfen, schleppt
Brennholz, schippt Schnee und pendelt zwischen den Versorgungszentren, in denen
Hilfsgüter verteilt werden, und den Wohnungen der Familien hin und her, die er
adoptiert hat und die nun schon auf ihn warten. Sein Gesicht ist von den
Patschhänden der Kinder verschmiert, die in seine Arme kommen und die er in den
stinkenden Wohnblocks ohne Licht die Treppen hochträgt. Er ist es, der sein
Leben anstelle der Mütter riskiert, fast alle kräftigen Männer sind an der
Front oder heben Schützengräben aus. Er fotografiert so gut wie gar nicht mehr,
sagt, es interessiere ihn nicht, Sarajevo sei voll von Fotografen und
Reportern, nichtsnutzigem Pack, Aasgeiern. Die Zeitungen der Welt hätten genug
von den zermalmten Toten und den schmutzigen Kindern im Jogginganzug, man
brauche den Platz für die Werbung, für Weihnachtskuchen und unvergängliche
Diamanten.
Er hatte es sich in
den Kopf gesetzt, hier zu verrecken, in diesem Krieg, und für all die
Friedensunterhändler zu büßen, die rein gar nichts taten. Doch ich hatte auch
das Gefühl, dass hinter dieser Aufopferung eine Ernüchterung mir gegenüber, uns
gegenüber steckte. Die Anmaßung eines verletzten Schuljungen.
Was glaubte er denn,
wer er war, dieser schmächtige, krumme Kerl, mit diesem roten Band, das seine
Haare zusammenhielt, und mit dieser Regenjacke, auf der hinten ein Kreuz aus Tesaband
klebte?
Er war jedermanns
Vater, und jeder rief ihn beim Namen.
» Zdravo , Diego!«
» Zdravle , Diego!«
Er sprach
mittlerweile ihre Sprache. Seine Hände waren wund vom Frost und von den
Wasserkanistern, die er schleppte.
»Du hast ja
Wundmale«, zog ich ihn auf.
Ich hatte mich
irgendwann in einen Jungen aus Genua verliebt, der den rauen Tonfall der ligurischen
Gassen und manch einen vom Kiffen kariösen Zahn hatte, in einen zügellosen
Sohn. In einen, der sich im Stadion prügelte und dann bei mir wie ein
Fußballküken war.
Jetzt war er ein
Greis mit dem langen Bart eines Eremiten.
Ich hebe etwas Schnee
auf und bewerfe ihn und seine gutmütigen Augen damit.
Mistkerl. Liebster.
Einmal pinkle ich
mich im Schnee ein, und zwar als ich den Mann in der karierten Winterjacke
neben mir zusammenbrechen sehe. Durch pures Glück ist er nicht tot. Er hat sich
gebückt, um seine Zigarette aufzuheben, sodass ihn der Granatsplitter nur an
der Schulter traf. Er ist davongekommen, weil ihm die Zigarette aus den
froststeifen Fingern gefallen war.
Es ist Glück im Unglück. Da ist all das Blut
und der Mann, der nichts begreift, der keinen Schmerz spürt und sich nur
darüber beklagt, dass die Zigarette nass geworden und ausgegangen sei. Dann
sieht er das ganze in den Schnee tropfende Blut und starrt mich mit weit
aufgerissenen Augen an, weil er denkt, es sei meines und mich habe die Granate
getroffen. Er denkt, ich sei die Tote und würde gleich zusammenbrechen. Er
starrt mich an wie ein Gespenst. Sucht meine Wunde. Denkt, dass sie vielleicht
im Nacken ist und ich gleich Blut spucken werde. Diese Augen machen mir Angst.
Trübe und fremd sehen sie mich sterben. Ist das der letzte Blick der Welt auf
mich? In der Kälte spüre ich den warmen Urin, der an nur einem Bein
hinunterläuft, an dem, das zittert. So ist das also, wenn man stirbt, ohne es
zu merken.
Später sagt der Mann,
er habe tatsächlich nichts gespürt, nur einen Stoß gegen die Schulter, dann
habe er sich umgeschaut und das Blut gesehen, und mich. Und eine Weile habe er
wirklich geglaubt, ich sei diejenige, die getroffen wurde. Erst später habe seine
Wunde angefangen zu brennen.
An diesem Tag, beim
Anstehen nach Wasser, habe ich gelernt, dass Granatsplitter nicht wehtun, sie
dringen in den Körper ein, ohne Schmerzen zu verursachen, weil der Schock wie
ein Betäubungsmittel wirkt.
Ich gehe nicht mehr
raus, warte verkrochen im Flur, weit weg vom Fenster.
Das Leben hat sich
auf das reine Überleben reduziert.
»Hast du was
aufgetrieben?«
»Wie gern würde ich
eine Mohrrübe essen, weißt du noch, Mohrrüben?«
Wir könnten uns im
Hotel verkriechen, uns zusammen mit der Auslandspresse im Holiday Inn über Wasser halten, dort herrscht das
Raunen vertrauter Sprachen, Leute kommen und gehen, es gibt warmes Essen und
Kellner. Doch Diego ist dieses unechte Mileu zuwider.
Ich klammere mich an
ihn, nackt, nunmehr ohne jede Würde,
Weitere Kostenlose Bücher