Das schönste Wort der Welt
ohne jeden Stolz.
»Ich war ein Scheusal
… ja, ein Scheusal. Ich will mich mit Aska treffen und sie um Verzeihung
bitten.«
Diego sieht mich an
wie einen Springbrunnen, wie ein lebloses Ding, das Wasser spuckt.
»Was kann ich denn
sonst tun? Was denn?!«
»Ruf deinen Vater an
und lass dir alles Geld schicken, das er auftreiben kann.«
Einmal kam er mit
einer Dose pašteta zurück, einer bosnischen Pastete, die
mir zu Friedenszeiten einen Brechreiz verursacht hatte, mir an diesem Abend
aber wie der größte Leckerbissen auf Erden erschien. Um Wärme und Zärtlichkeit
bittend sah ich Diego an. Streckte meine Hand aus, und er küsste sie, wie man eine
Briefmarke anleckt, um einen Umschlag zu frankieren. Nur um mich wegzuschicken.
Wir blieben noch
einen Moment so, und ich neigte den Kopf, damit er mir den Nacken küsste, die
Vertiefung, die er so gern hatte.
Doch er bemerkte es
nicht. Er sah sich Fotos an, die er in einem Labor hatte entwickeln lassen, in
einer Bude hinter der Tito-Allee, wo ein alter Mann noch Abzüge machte, auf
altem, stumpfem Papier, das mit dem Messer zurechtgeschnitten war.
»Zeig mal.«
Leute in Pose, an den
Schultern abgeschnitten. Bilder ohne Tiefe, wie die Fahndungsfotos der Polizei.
»Was ist denn das für
Zeug?«
»Sie haben mich darum
gebeten.«
Er arbeitet jetzt nur
noch für Leute aus Sarajevo. Es sind Erinnerungsfotos, Bilder zum Andenken, die
man den Verwandten schicken oder aufs Grab stellen kann.
»Fass sie nicht an.«
»Warum denn nicht?«
»Du hast klebrige
Hände.«
Es stimmt, meine
Hände sind von der pašteta verschmiert. Da halte ich es nicht mehr aus. Noch bevor er reagieren kann,
zerknülle ich die Fotos, all die armseligen Gestalten in Positur. Und ich fühle
mich lebendig, weil mir nichts geblieben ist als meine Wut.
Ich folge ihm wie ein
schmutziger, kranker Schatten.
Er spielt im Schnee
mit einigen Kindern Fußball auf dem zerstörten Hof. Er lacht, springt,
dribbelt. Dann bleibt er stehen, vornübergebeugt, erschöpft. Sein weißer Atem
im Frost.
Die Schulklasse aus
Polyurethanschaum klebt noch immer an der gespenstischen Fassade. Mladjo aber
ist tot. Er schob den Rollstuhl seines Vaters, und der Heckenschütze erschoss
ihn, um sich darüber zu amüsieren, dass der alte, querschnittgelähmte Mann
allein zurückblieb, mitten auf der Straße, unfähig, sich zu bewegen und seinem
Sohn zu Hilfe zu kommen.
Ich folge Diego
weiter zum Markale, er geht in die baufällige Halle, in der heute
schneeverschmierte, tropfende Kleidungsstücke hängen, Hilfsgüter, die auf dem
Schwarzmarkt gelandet sind. Er wühlt in den Bergen von Gummistiefeln und
gebrauchten Schuhen. Mich ekelt mittlerweile alles an. Ich bin am Ende. Mich
ekelt der Gestank nach gebrauchtem, nassem Zeug an, nach Gemeinschaftssuppen,
die in großen Aluminiumtöpfen kochen, und nach kaputten Abwasserrohren, mich
ekelt auch der dreckige Schneematsch an. Ich habe Angst vor den streunenden Hunden,
die die Toten zerfleischen, habe Angst vor den eingefallenen Gesichtern der
Leute, vor den Hosen, in denen dünne, steife Beine wie Krücken stecken, vor den
wirren Blicken, die den Boden absuchen und herumstöbern wie die der Hunde. Es
gibt nichts mehr in der Stadt, sie ist ein abgebranntes Feld. Die unterernährten
Leiber haben Mühe, sich auf den Beinen zu halten, sie wanken suchend umher,
suchend nach irgend etwas, das zum Leben dienen könnte. Bojan, der Schauspieler,
und seine Freundin Dragana geben im Bogengang der Fußgängerzone eine
Extravorstellung, sie tun so, als würden sie essen, sie decken eine imaginäre
Festtafel und sind so überzeugend, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft.
Sie nehmen die Passanten, die stehen bleiben, um ihnen zuzuschauen, bei der
Hand, laden sie ein, sich für diese Völlerei zu ihnen zu setzen, servieren den
Tischgästen Suppe, Hammelkeule, Pita, lecken sich die Finger und schlucken,
manche lachen, manche weinen, doch am Ende sind alle etwas satter.
Diego verlässt den
Markale mit einem Schaffellmantel, der auf einem Kleiderbügel hängt. Er trägt
ihn über der Schulter, diesen umgekehrten Ledermantel mit dickem Fell, der
aussieht wie ein Tier. Er schleppt ihn durch den Schnee.
Als ich Aska das
letzte Mal sehe, trägt sie diesen Mantel. Er macht sie bullig. Die Knöpfe über
ihrem enormen Bauch sind straff gespannt. Sie ist zur Ferhadija-Moschee
gegangen, zieht sich die Schuhe aus und wäscht sich in dem eiskalten Brunnen. Diego
hilft ihr, stützt sie. Sie
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