Das schönste Wort der Welt
dort sollen zwei Busse nach Kroatien abfahren. Gojko hat mir
geholfen, einen Platz für sie zu bekommen. Es war nicht weiter schwer, ich
musste dreitausend Mark hinlegen, fast alles, was ich noch hatte, doch davon
weiß sie nichts. Ich darf es ihr auch nie sagen, wenn ich mir ihre Freundschaft
erhalten will. Ich habe ihr erzählt, sie sei alt und verwitwet und stehe daher
regulär auf der Liste der Zivilisten, die evakuiert werden sollen. Aber das
stimmt nicht, niemand kommt heraus, ohne zu bezahlen. Sie hat nur einen Koffer
bei sich, einen kleinen, dunkelbraunen Kunstlederkoffer mit querlaufenden
Riemen. Ich hebe ihn am Griff an, er ist federleicht. Dieser halbleere Koffer
gefällt mir nicht, er enthält keine Verheißung von Leben.
»Was brauche ich denn
schon?«, sagt sie. »Meinen Mantel habe ich ja an. Was brauche ich schon für
mein neues Leben?«
Doch die Amseln hat
sie mitgenommen, sie sitzen in einem zu kleinen, mit einem Lappen abgedeckten
Käfig zu ihren Füßen. Sie fürchtet, mit diesem Käfig nicht einsteigen zu
dürfen, das ist ihre einzige Sorge. Sie lächelt. Ihr Haar ist kurz und grau meliert,
ihr Gesicht welk. Doch an diesem Morgen ist es leicht rosig. Wir können uns
nicht einmal hinsetzen, es ist hundekalt, wir warten im Stehen vor den Trümmern
dessen, was einmal der Bahnhof gewesen ist … Von hier aus fuhr man nach Ploče, zu einem Ausflug ans Meer. Andere
Leute warten mit uns, sie sitzen auf ihrem Gepäck, Frauen, die Kinder an sich
pressen. Wenn sie es schaffen, die militärischen Kontrollen der Checkpoints zu passieren,
werden sie die ohnehin schon große Schar von Flüchtlingen vergrößern, von
Menschen auf der Durchreise, die eine befristete Aufenthaltserlaubnis in ihrem
blauen Pass mit den goldenen Lilien des neugeborenen und schon wieder
begrabenen Bosnien haben. Sie werden in Auffanglager kommen, werden niedere
Arbeiten verrichten, werden von den Bürgern der Länder, in denen sie leben
dürfen, misstrauisch beäugt werden, und sie werden niemals wieder sie selbst
sein. Das ist das neue Leben.
Die Busse kommen bei
Sonnenuntergang, als schon niemand mehr damit rechnet. Es gibt einen großen
Beifall, kariöse Münder lachen. Velida klettert in den Bus und nimmt den Käfig
auf den Schoß. Wir verabschieden uns durchs Fenster, sie ruckt schnell mit dem
Kopf und schließt die Augen, um mir zu verstehen zu geben, dass alles in
Ordnung sei. »Ich schreibe dir.«
Ich habe ihr von Aska
erzählt, zu guter Letzt. Sie wusste schon Bescheid, sie hatte sie mit Diego
gesehen.
»Wo?«
»Im alten türkischen
Bad.«
Sie gingen Hand in
Hand. Ihr Anblick hatte Velida sehr berührt. So jung, so verloren, so
geistesabwesend.
Sie hat mir die Hand
gedrückt, mich zu einer letzten Umarmung an sich gezogen. »Mach es nicht so wie
ich«, hat sie gesagt. »Lass dich nicht vom Tod einschüchtern. Kämpfe, Gemma,
pack das Leben beim Schopf.«
Ringsumher weinen
Mütter, einer der zwei Busse ist ausschließlich mit Kindern besetzt. Nur ein
Begleiter ist dabei, ein stämmiger Mann mit pfirsichfarbener Krawatte, er
sammelt die Pässe ein.
An diese Krawatte und
diesen Bus mit den Kindern werde ich mich in meinem Wohnzimmer in Rom erinnern,
wenn ich lese, dass Hunderte evakuierte Kinder aus Sarajevo spurlos
verschwunden sind. Vielleicht illegal adoptiert, vielleicht Schlimmeres. So
schlimm, dass man sagen muss: Lösch alles aus, Gott, worauf zum Teufel wartest du noch? Nimm die
Sonne weg, schleudere einen Planeten vom Himmel auf uns, der so schwarz ist wie
das Herz dieser Wilderer in Schlips und Kragen. Lass alles finster werden, ein
für alle Mal. Lösch auch das Gute aus, denn in seinen Taschen wohnt das Böse.
Jetzt. In diesem Augenblick. Denn in diesem Augenblick erwischt es ein Kind.
Rette das Letzte und lösch alles aus, Gott. Hab kein Mitleid, wir haben kein
Recht auf irgendeinen Zeugen .
Eines Nachts dringen
aus den Schluchten in den Bergen Frostböen talwärts in die Gassen der Baščaršija und lähmen das noch vorhandene Leben.
Die Temperaturen sinken weit unter null, die Decken lasten steif und eisig wie
Metallmäntel auf den Körpern. Die Kälte zwängt sich überall in die beschädigten
Häuser. Die Fensterplanen sind vereist, die Hände, die sie berühren, verbrennen.
Nun sind im dunstigen Morgengrauen die ersten Erfrierungsopfer zu verzeichnen,
eisverschleierte Mumien wie trockenes, mit Glasur überzogenes Gebäck. Die
Wintergärten halten sich noch, zusammengeschrumpft unter kleinen Planen
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