Das schönste Wort der Welt
aus zusammengeknüpften
Zellophantüten.
Die Heckenschützen
von Grbavica, Trebević und Poljine haben ihre Einsätze wegen
des Frostes verkürzt, sie können das Fleisch ihrer Hand nicht mehr vom Eisen
des Gewehrs unterscheiden.
Schnee fällt und
verschluckt den Himmel. Die Stadt ist in der Stille ihrer Wege eingeschlossen,
die Wasserleitungen haben Eisgerinnsel an den Hähnen. Die Kinder löschen ihren
Durst mit Schnee, der an den Schleimhäuten frisst.
Der Schnee bedeckt
die Trümmer, er setzt sich im Verlauf einer Nacht auf den schwarzen Wohnblocks
fest und scheint alles sauber machen zu können. Doch die Stadt wirkt noch
düsterer, noch verlassener, wenn der mit der Hand weggeschaufelte Schnee seine
schmutzigen Wände bildet und aus der weißen Decke die eingestürzten Minarette
wie zerbrochene Lanzen hervorstechen. Der Frost lässt das Leben schrumpfen …
auf der Straße nur klapprige Gestalten, krumme Skelette wie aus dem
Naturkundemuseum ziehen Schlitten und verbogene Kinderwagen voller Schrott.
Dann die erste
Granate des Tages, das Blut im Schnee.
Gojko sehe ich fast
gar nicht mehr, er wohnt im Rundfunkbunker, stellt die Verbindung zwischen den
Leuten und ihren Angehörigen her, die in den besetzten Wohnvierteln festsitzen,
und empfängt von den Radiostationen in Kroatien und Slowenien die Anrufe von
Flüchtlingen, die wissen wollen, wie es ihren Familien in der belagerten Stadt
geht. Trotzdem findet er noch die Kraft zu lächeln. Sie hören sich an wie Stimmen aus dem
Jenseits , sagt
er. Er ist inzwischen versiert darin, ferne Geräusche und Verbindungen, die
unzählige Male abreißen, aufzufangen, Stimmen, die in einem Dickicht
auftauchen, das von anderen Stimmen gestört wird, von Schluchzern und von
Geräuschen, die wie Erdstöße klingen.
»Irgendwann werde ich
mit den Toten sprechen«, sagt er. »Wenn der Krieg vorbei ist, werde ich zum
Medium geworden sein.«
An manchen Abenden
gelingt es uns noch, zusammen ein Glas von diesem Bier, das mittlerweile nach
Seife schmeckt, zu trinken, in Kellerlokalen, die wieder aufgemacht haben, weil
sich das Leben im Schatten des Krieges allmählich neu organisiert. Die Jugend
möchte sich betrinken, sich verlieben und lachen.
So sehe ich Ana und
Mladjo wieder. Zoran aber wurde von einer Gruppe Paramilitärs verschleppt und
starb auf dem Žuć, wo er Schützengräben ausheben
musste. Sie lachen, weil Zoran ein Intellektueller war und körperliche Arbeit
scheute wie eine Katze das Wasser, ihn sich bis zu den Knien im Dreck und mit
dem Spaten in der Hand vorzustellen amüsiert sie.
»Denn«, sagt Ana,
»Tränen ertränken die Toten, und Lachen erhält sie am Leben.«
Sie trägt ein Paar
Levi’s 501 und ein schwarzes T-Shirt, sie ist immer noch schön, auch wenn ihre
Zähne jetzt dunkler sind.
»Was hast du hier
noch verloren?«, fragt sie mich.
Mladjo will mir sein
neuestes Werk zeigen. Wir gehen zu einem österreichisch-ungarischen Gebäude, in
dem eine Grundschule war. Innen ist es völlig zerstört, doch die Fassade steht
noch. Auf diese Mauer, einsam wie eine ins Nichts gespannte Leinwand, hat er
Polyurethanschaum gesprüht und das Bild einer Schulklasse modelliert … eine
riesige Gruppe seltsamer Kinder. Viele Gesichter erkenne ich wieder, Ana, Gojko
und Zoran mit dem Narbengesicht. Er hat jeden dort abgebildet, den er in
Sarajevo kennt, all seine Freunde, die lebenden und die verlorenen.
Was ist mir von
diesem letzten Monat in Erinnerung geblieben? Sebina mit einer roten
Weihnachtsmannmütze, die Gojko von einem irischen Kameramann abgestaubt hatte.
Sie ging mit ihrer Mutter zu einer kleinen Feier in die Wohnung einer Cousine,
Mirna trug ein Tablett mit Süßigkeiten, das Haar frisiert, die Lippen rot
geschminkt. Wir kamen am Zemaljski Muzej vorbei, und sie warf einen Blick auf
die mittelalterlichen stečci ,
die von Schüssen durchlöchert waren. Sebina dagegen schien diese Schändung
nicht zu bemerken, sie hüpfte zwischen den Sandsäcken der Verschanzungen umher.
Sie freute sich, weil es ihrem Lehrer gelungen war, in seiner Wohnung eine
kleine Schulklasse zusammenzustellen, so würde sie das Schuljahr nicht
versäumen.
Ich weiß nicht, wo
die Liebe in uns einsickert, bevor sie im Bauch ankommt. Doch der Krieg war
durch die gleichen Ritzen in mich gesickert, durch die einmal die Liebe
gekommen war, und hatte sich nun in mir festgesetzt, tief in meinem Inneren. Nachts
zog nur das Licht der Leuchtspurgeschosse durch das Dunkel. Ich dachte an
Weitere Kostenlose Bücher