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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Unschuld war mein Schutz. Er war es, der mich zu
seiner Mutter ernannt hat. Der gesagt hat Du bist es. Und das ist der Beleg .
    Was hätte ich ihm
denn sagen sollen?
    Jedes Mal, wenn ich
eine Freundin besuchte, die zwischen weißen Kissen und Schleifen entbunden
hatte, jedes Mal, wenn ich diese Reinheit sah, jedes Mal, wenn ich den
unbeschreiblichen Geruch nach neugeborenem Fleisch, nach neuem Kind spürte oder
auch nur den Geruch nach Reinigungsmitteln und nach Pads zum Desinfizieren der
Brustwarzen vor dem Stillen, jedes Mal, wenn ich lächelte und sagte Wie wunderbar, wie zauberhaft , jedes Mal kam ich mir wieder etwas
einsamer vor und etwas hässlicher. Und wenn ich mein kleines
Gratulationsgeschenk abgegeben hatte, verließ ich diese Wattehöhlen mit
verdüsterter Miene. Ich streunte eine Weile herum, ohne noch ich zu sein.
    Ich habe nicht
entbunden. Von dem, was uns fehlt, genesen wir nie, wir arrangieren uns,
erzählen uns andere Wahrheiten. Wir leben mit uns selbst und mit der Sehnsucht
nach Leben, wie alte Leute.
    Ich hatte nicht teil
an diesem Urerlebnis, an der Regeneration meiner selbst. Mein Körper war von
Anfang an ausgeschlossen von diesem Fest, das normale Frauen am laufenden Band
wiederholen, satt und gleichgültig gegen solche wie mich.
    Eine Entbindung
verändert die Knochen, verschiebt sie. Meine Großmutter sagte immer, jede
Geburt sei wie ein Nagel im Körper einer Frau, wie der Nagel eines Hufeisens.
Und Mütter sähen kurz vor ihrem Tod ihre Entbindungen noch einmal, ihren
Körper, der sich weit auftut und der Welt weiße Nahrung schenkt. Sie sähen die
Nägel, die Spur ihres Weges, noch einmal. Doch woran werde ich mich erinnern,
wenn ich sterbe? Wie wird mein Hufeisen aussehen?
    Pietro schrieb, ich hätte
ihn mir auf den Bauch gelegt und er sei auf mir eingeschlafen. Eigentlich hätte
ich mich schämen müssen, doch ich war die Ruhe selbst. Der Rest war Schrott.
    Gojko holte mich ab,
ich hörte die Schläge gegen die Tür, ich schlief nicht. Mit geschlossenen Augen
lag ich an der hinteren Wand des Zimmers, wohin ich das Bett geschoben hatte,
ich schaffte es nicht, mich von dieser Wand zu lösen, die Kälte abstrahlte und
an die ich mich beim Schlafen ängstlich drückte. Es war kurz vor Tagesanbruch,
normalerweise hätte ich das nicht bemerkt, doch inzwischen nahm ich jede
Variation der Dunkelheit wahr.
    Gojko sagt nichts, er
hat ein Feuerzeug in der Hand, damit wir uns in der Finsternis sehen können.
Dann macht er es aus, wohl um Gas zu sparen.
    »Was ist los?«
    Ich sehe sein Gesicht
nicht mehr, ahne es nur im Widerschein des letzten Augenblicks, des gerade
verloschenen Flämmchens. Er bewegt sich, fährt mit der Hand zu seiner Wange und
lässt sie dort, wie ein Gehäuse aus Fleisch, als wollte er sich schützen. Es
ist eine ungewöhnliche, weibliche Gebärde, die ich noch nie an ihm gesehen
habe.
    »Was ist denn los?«
    Er schüttelt den Kopf
und brummelt vor sich hin.
    Warum redet dieses
Trampeltier nicht? Ich bin auf alles gefasst. Seit ich in dieser Leichenhalle
war, seit der erste Schnee gefallen ist, bin ich auf alles gefasst. Jovan hat
mir schon alles beigebracht. Der Körper leert sich wie ein durchlöcherter
Sandsack, man hört das Geräusch des schnell herausrieselnden Sandes. Diese Ruhe
ist eine Tugend Sarajevos. Man weiß gar nicht, dass man sie in sich hat, sie
ist so unverhofft wie die Ruhe der Toten.
    Ich nehme die
Taschenlampe und leuchte ihn an. Er sträubt sich gegen das Licht, wirft den
Kopf hin und her, nimmt die Hand von der Wange und spuckt auf den Boden.
    »Ahhh …«
    Es riecht stark nach
Alkohol, nach Schnaps. Gojko flucht und jammert, weil ihm ein zub , ein Zahn, wehtut, einer von den großen, hinteren. Er sagt, er
behalte den Schnaps im Mund, um das Kindlein zu wiegen, diesen Backenzahn. Ich
sehe ihn an, seine Wange ist geschwollen, als hätte ihn etwas gestochen, und
seine schlaffen Augen sind halb geschlossen.
    Dann erzählt er, dass
die Wehen eingesetzt hätten und dass er hier sei, um mich abzuholen. Diego habe
ihn darum gebeten.
    Ich gehe mit der
Taschenlampe ins Zimmer zurück, bücke mich, ziehe den Koffer unterm Bett
hervor, öffne ihn und nehme den Rucksack mit dem Geld heraus, das mein Vater
mir durch Vanda geschickt hat, die Volontärin, die ich im Militärflugzeug kennengelernt
hatte. Wir sind uns in einer Kafana wiederbegegnet, sie hat sich die Haare
abrasiert wie ein Fallschirmjäger. Wir haben uns ein Päckchen Damenbinden
geteilt wie zwei

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