Das schönste Wort der Welt
nicht erkennen, sie akzeptieren deine Lügen als schon in Ordnung. Meine
Mutter tat, was sie immer tat: Sie stützte sich auf meine Schultern. Von ihr
hatte ich gelernt, mich vor Kummer zu fürchten, und dass ein gültiges Leben
keine Wahrheit um jeden Preis braucht. Man brauchte sich bloß zurückzuziehen,
sich anderem zuzuwenden, einer Blumenvase oder einem vorbeifahrenden Auto, man
musste bloß ein paar ehrliche Blicke opfern, um diskret weitergehen zu können.
Sie war die klassische monstergeeignete Ehefrau. Mir ist klar, dass ich hier
etwas Ungehöriges sage, doch wer weiß. Wäre mein Vater ein Pädophiler gewesen,
hätte sie einfach ihre Hände betrachtet, hätte den Ehering abgezogen, hätte
dann jedoch entschieden, dass, nein, diese nackte Hand doch zu grausam sei, und
sie hätte sich den Ring mit einem traurigen Lächeln wieder angesteckt,
überzeugt davon, es auch diesmal wieder zu schaffen. Doch das Leben gab
Annamaria nicht die Gelegenheit, zu ermessen, wie weit ihre Angst gehen würde.
Mein Vater war kein Mädchenschänder, er war ein taktvoller, rechtschaffener
Mann, zu unbestimmt und abgekapselt, um in meinem aufgeregten Leben einer
Dreißigjährigen einen Platz an der Sonne zu finden. Umso stärker beeindruckten
mich seine Worte aus dem Nichts, aus dem Flur, aus dem üblichen Buch in der
Hand, aus dem üblichen Gesicht eines üblichen Abends nach dem Essen.
»Bist du sicher, dass
du das Richtige tust?«
Ich drehe mich um,
will gerade mit Fabio ausgehen, er sitzt unten im Auto, wir müssen zum letzten Termin
mit dem Priester.
»Was meinst du,
Papa?«
Er zeigt auf den
Wohnzimmertisch, im Dunkel der ausgeschalteten Deckenlampe ein mit
Geschenkpaketen beladener Katafalk: Kartons mit Tellern, Besteck, Silberkannen,
kleinem Hausrat für Schränke, für Abendessen, für beschissene Hochzeiten.
»Wir schicken das
Zeug einfach an die Absender zurück, mach dir bloß keine Gedanken wegen diesem
Kochtopfchaos.«
Er ist Lehrer für den
Werkunterricht, seine Hände riechen nach Sägemehl und Leim, doch abends liest
er Homer und Yeats. Sein Gesicht ist rot, erhitzt. Er wusste, dass er es tun
musste, er musste mit mir sprechen. Vielleicht hat er vorher darüber nachgedacht,
vielleicht auch nicht. Er merkte, dass die gemeinsamen Tage zur Neige gingen,
dass keine Zeit mehr zum Reden blieb, und so ist seine Stimme einfach
losgegangen, ist aus dem Bauch aufgestiegen und heraus in den dämmrigen Flur
gesprungen. Meine Mutter ist hinten, im kleinen Wohnzimmer, in ihrem
Fernsehneon, in ihrem Gesicht, das diesem kathodischen Frieden zugeneigt ist.
Ich bin wie sie, bin eine verfeinerte, gewieftere Version von ihr. Ich verstehe
es, Lügen wie Klumpen von Wahrheit zu verbreiten.
»Ach, weißt du, Papa,
ich bin zufrieden, mehr will ich gar nicht.«
»Und der andere?«
Mir geht durch den
Kopf, dass Diego dankbar für diesen aufrichtigen Mann wäre, der sich im Dunst
dieses Hauses ein Herz gefasst hat.
Ich werde nicht
einmal rot, verziehe den Mund. Ich bin es, die ihn verleugnet, die Diego keine
Chance lässt.
»Den anderen gibt es
gar nicht, Papa, er ist ein Niemand.«
Er nickt. »Na gut,
dann lassen wir weiter Kochtöpfe heraufbringen!« Er lächelt und brummelt etwas.
Er ist schüchtern, hat sich weit vorgewagt. Er hat mir ein Seil zugeworfen, und
ich habe es fallen lassen.
Er geht weg, ich sehe
ihm nach. Er glaubt mir, weil ich seine Tochter bin. Glaubt mir, wenn auch
nicht ganz. Glaubt dem Plan in meinem Kopf, den Kästchen, die ich geöffnet und
wieder geschlossen habe, setzt auf dieses Risiko, auf diese Schachpartie. Er
schlüpft nicht in meinen Slip, und er dürfte nur mit Mühe in den meiner Mutter
geschlüpft sein. Frauen sind für ihn kleine Ungeheuer, Leckerbissen für
tollkühnere Gaumen. Er hat Respekt vor dem Denken, der Stirn: Dorthin küsst er
mich. Den Rest kennt er nicht, er geht ihn nichts an, vielleicht ahnt er ihn,
und deshalb zittert er.
Am nächsten Tag wird
es mir klar. Es wird mir klar, weil ich es schon weiß, und während ich es schon
weiß, gehe ich zur Apotheke, die Beine schlapp wie die eines Hundes, der aus
dem Zwinger entlaufen ist. Ich kaufe den Test. Ich weiß nicht einmal, wie man
ihn nennt, mir fällt das Wort nicht ein, ich sage das Dings … das Schwangerschaftsdings . Die Verkäuferin packt ihn ein, nimmt
ein Klebeband. Die Zeit in ihren Händen ist endlos.
Ich gehe in eine
Imbissbude. Es ist ein Uhr, die Fußböden schwitzen Fett aus, alles ist voller
junger Leute,
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