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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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trinkt
jetzt aber nicht.
    »Tut es dir leid?«
    Er nickt, lächelt,
doch sein Mund ist traurig wie ein rostiger Angelhaken. Schweigend trinkt er
das ganze Bier aus.
    »Und dir?«
    Ich zucke die
Achseln. Ich habe keine Zeit zum Bedauern gehabt, es ging alles zu schnell. Ich
sage ihm, es sei ein blindes Ei gewesen, ein Windei.
    Er sagt, seine
Großmutter sei blind.
    »Sie war zwölf Jahre
älter als mein Großvater. Er sah sie immer mit dem Fahrrad vorbeikommen, einmal
fiel sie ins Wasser, sie hatte das Meer nicht gesehen, mein Großvater fischte
sie und das Rad wieder heraus. Sie blieben zeit ihres Lebens zusammen. Mein
Großvater ist tot, meine Großmutter lebt noch. Sie lässt sich nicht helfen,
kann kochen, kann einfach alles. Wenn ich sie besuche, macht sie mir was zu
essen, sie setzt den Topf mit dem kochenden Wasser treffsicherer auf als ich,
obwohl ich sehen kann.«
    »Was hat denn deine
Großmutter damit zu tun?«
    »Nichts, ich wollte
dir nur sagen, dass die Liebesgeschichten, die absurd erscheinen, manchmal die
besten sind … dass ich nur fünf Jahre jünger bin als du, dass ich so
zuverlässig wie mein Großvater bin … dass ich vor dir sterben werde, weil
Frauen länger durchhalten … Ich wollte dir sagen, dass du nicht heiraten sollst,
Kleine. Dass du lieber mich nehmen sollst. Ich bin dein blindes Ei.«
    Er hat den Himmel in
den Augen und macht diese eine Bewegung, er greift sich in den Nacken und
wartet, es ist eine Geste des Aufgebens, vielleicht der Niederlage, es ist, als
stützte er sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf seinen Nacken, es ist
die Bewegung, die ich gesehen habe, als er sich damals in der Kneipe zu mir
umdrehte, er griff sich in den Nacken und blieb so, reglos. Es ist die
Bewegung, die mir irgendwann bis an den Rand der Verzweiflung fehlen wird.
    Ich sage, dies sei
unser letztes Treffen, und wenn ich verheiratet sei, dürfe er mich nicht mehr
anrufen.
    Er fragte mich, ob er
mich fotografieren dürfe. Ich blieb an der Treppe von San Crispino stehen und
ließ ihn gewähren, auf dem Boden hatten sich Tauben niedergelassen, neben mir
postiert wie kleine, krummbeinige Totengräber, ich verscheuchte sie mit der
Hand. Wir schlenderten ein bisschen herum, aßen einen Happen Pizza, sahen uns
ein Schaufenster mit Objektiven an, ich traf eine Freundin, grüßte sie, ohne
stehen zu bleiben. Unterdessen sank das Licht. Für einen Augenblick leuchteten
die Pflastersteine im Zentrum blassblau auf, dann breitete sich die Dunkelheit
wie Rauch in den Gassen aus. Ich brachte ihn zum Bahnhof. Auf diesem Rückweg in
der vergehenden Dämmerung saß nun er am Lenker. Er raste wie ein Verrückter.
Sagte, er fahre immer so, für ihn sei das normal, denn es sei praktisch, er
habe jede Menge Motorroller gehabt und seine Jugend mit ölschwarzen Händen und
Ersatzteilen verbracht. Jetzt habe er ein cooles Motorrad. Das nächste Mal
komme er mich damit besuchen.
    Es wird kein nächstes
Mal geben. Wir gehen zum Bahnsteig. Er will einen Kuss, ich gebe ihm einen. Es
ist ein sonderbarer Kuss, der schon nach Zug schmeckt, nach dieser Fahrt, die
er allein machen wird, mit seinen roten Hosen, seinen dünnen Knien und seinem
Genoa-Fußballschal … wenn er den Kopf ans Fenster lehnen wird, wenn er zum Klo
gehen wird, wenn er an seinen Platz zurückkehren wird. Wenn es stockdunkel sein
wird und er seinen Rucksack nehmen und in Genua-Brignole aussteigen wird, wenn
er sich in die Hafengegend, in die ligurischen Gassen, in seine kleine
Dunkelkammer zurückzwängen wird. Wenn er das Foto von den Tauben und meiner
Hand entwickeln wird, die sie verscheucht, so wie ich ihn verscheucht habe.
    Es reicht, gehen wir.
Das Leben hat es eilig. Ein Letztes noch, ja. Bevor sich die Zugtür schließt,
sage ich ihm an den Griff über der Eisenstufe geklammert: »Pass auf dich auf,
und mach bloß keinen Unsinn.«
    Er sieht aus wie ein
Kind, das ins Ferienlager fahren muss.
    Ich heirate. Gehe zum
Altar, auf Fabio zu, der sich umgedreht hat und mich anschaut. Er trägt einen
grauen Cutaway aus schillerndem Stoff mit zwei Schößen und steifer Hemdbrust.
Da vorn, in der geschmückten Düsternis der Kirche, wirkt er wie eine große
Taube. Da ist der Altar, der priesterliche Freund, der rote Teppich, die weißen
Gestecke aus Rosen und Callas. Da ist der Arm meines Vaters. Steif und
angespannt. Wie ein an einem Faden hochgehaltener Holzarm. Er ist es nicht
gewohnt, in egal welchem Mittelpunkt zu stehen. Er rückt langsam vor,

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