Das schönste Wort der Welt
Schulter
unseres priesterlichen Freundes zu beichten. Was in Sarajevo passiert war,
gehörte nur mir, es wiegte einen uralten Teil meines Daseins.
Diego fehlt mir, doch
ich habe nie in Betracht gezogen, mein Leben zu ändern. Das sage ich ihm im
Tunnel eines sehr langen, nächtlichen Telefongesprächs. Seine Stimme ist ein
Schluchzen unmöglicher Bitten, es geht ihm schlecht, er tut nichts anderes, als
an mich zu denken, isst nicht, fotografiert nicht, fährt nicht nach Brasilien.
Stirbt. Redet über jene Nacht, unsere Körper, unseren Schlamm.
Ich traue seiner
Stimme nicht, ziehe mich zurück. Das hält so nicht, das kann nicht halten.
Diego sagt, doch, seine Liebe halte das ganze Leben, weil er verrückt sei, doch
ich hätte ihm keine Zeit zum Kämpfen gelassen. Tagelang habe er sich nicht gewaschen,
um die Kruste meiner Haut weiter an sich zu haben. Er versucht zu lachen, doch
es ist ein sterbendes Lachen. Fragt mich, ob ich immer noch so rieche. Ich rede
nicht, ich weine.
»Sei still.«
»Ich warte«, sagt er.
»Ich bin hier.«
Er ist völlig aus dem
Häuschen, ist ein kleiner Junge.
Er fragt nicht nach
Fabio, nicht nach meiner Hochzeit. Er fragt nach meinen Füßen, meinem
Bauchnabel, der kleinen Vertiefung hinter den Ohren. Er hat die Fotos aus
Sarajevo entwickelt, die vom Schnee und die von den sich ausruhenden Athleten,
hingeflegelt in ihren Unterkünften in Mojmilo, und vor allem die letzten
Bilder, die von mir. Er lacht und erzählt, seine Mutter habe nach diesem
Mädchen im Schnee gefragt, das in so großen Nahaufnahmen in seinem Zimmer
hängt, dass es zu leben scheint, in Bewegung. Er senkt die Stimme, um mir von dem
intimeren Foto zu erzählen, das er versteckt hält, ich nackt am Fenster.
»Wann hast du das
gemacht?«
»Als du es nicht
gemerkt hast.«
Er holt es nachts
heraus, schaut es bei unseren Telefongesprächen an, schaut es an, wenn er
allein ist, presst es auf seinen Bauch, schläft damit ein. Kann sein, dass er
auch noch andere Sachen damit macht, lässt er durchblicken.
Ich sehe ihn in dem
Zimmer, das er mir beschrieben hat, die Fußballfahne von Genoa, die Fotos von
den Kindern in den Indianerreservaten, die Fotos von seinen Freunden bei den
Ultras und das spartanische Bett, das er sich aus Brettern zusammengenagelt
hat. Er hat die Stereoanlage eingeschaltet, hat unsere Musik eingelegt, spielt
sie mir am Telefon vor, er hält den Hörer an die Lautsprecher und sagt, ich
solle nicht mehr reden, wir sollten uns zusammen unser Lied anhören.
… To
say I’ll make your dreams come true would be wrong … But maybe, darlin’, I
could help them along … Er ist nackt, er ist dünn, er ist es. Er schließt die Augen, sucht
mich.
Als ich Fabio sah,
kehrte ich seelenruhig zurück. Wäre ich wirklich unglücklich gewesen, hätte ich
ihn verlassen, ich hatte genug Mut, das zu tun. Doch er heiterte mich auf, war
eine Windstille, die mir entgegenkam. Er war mein Freund, der Geruch mancher Winternachmittage
… die Bücher aufgeschlagen auf dem Tisch im Teezimmer, in das wir uns
zurückzogen, um zu arbeiten und uns mit Törtchen vollzustopfen, wir hatten es
geschafft, das Studium abzuschließen, gemeinsam zu wachsen. Er begleitete mich beim
Einkaufen, setzte sich hin und wartete auf mich, hatte Geduld und Geschmack.
Ich schlug die Beine übereinander. Ich mochte das Nylon der Strümpfe,
Feinstricksachen, die Tasche über der Schulter, all die Schichten, die mich
fern von meiner Nacktheit hielten, von dem verletzbaren, kindlichen Graben, der
mein Körper war. Ich wollte nicht leiden. Als kleines Mädchen schmachtete ich
mit Begeisterung im Fahrwasser melancholischer Literaturgeschöpfe, aber ich war
nicht dafür geschaffen, Hirngespinsten nachzujagen und Tränen
zusammenzukratzen. Die Welt schien mir mit allem gesättigt zu sein.
Liebesgeschichten waren, wie alles andere auch, karzinomartig von Sehnsucht
durchsetzt, doch rasch abgenutzt. Nur Dumpfbacken glaubten an sie. Ich kehrte
zurück, um mich in Frieden zu fühlen, gesegnet von der Normalität, vom
maßvollen Wohlstand.
Die Nacht in Sarajevo
war ein endgültiger Abschied von einer anderen Frau gewesen, einer kümmerlichen
Bettlerin, die ich besiegt hatte und die nicht mehr in mir lebte.
Zwei Wochen waren
erst vergangen, es schienen Jahre zu sein, es schien gerade erst geschehen zu
sein. Vielleicht hatte meine Mutter etwas gemerkt, das Telefon, das nachts
immer so lange besetzt war. Sie sagte nichts. Die Menschen um dich her wollen
dich
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