Das schönste Wort der Welt
tieftraurigen Blicken, in denen sich die Protagonisten kurz
streifen, doch nicht begegnen, weil der Regisseur ein knickriger Hurensohn ist
und es von Anfang an nur darauf abgesehen hatte, dich mit trockenem Mund sitzen
zu lassen, ohne die Küsse der amerikanischen Schlussszenen.
Jetzt
gehe ich aber ,
sagte ich mir. Doch ich blieb. Ich war auf die Bank am Fuß der Säule gesunken.
Diego ging auf und ab, er schaute sich in einem fort um, als könnte ich hinter
seinem Rücken auftauchen wie ein Geist. Er spähte zu den Menschen hinüber, die
in der großen Halle wimmelten, rührte sich aber nicht vom Bahnsteig. Ich konnte
seine Gedanken lesen, seine Schritte vorausahnen. Er hatte eine Ledertasche
über der Schulter und einen Stuhl in der Hand. Einen kleinen, grünen
Plastikstuhl. Wozu brauchte er den? Hin und wieder hüpfte er, um etwas Schwung,
etwas Spannkraft in die Beine zu bekommen. Der Bahnsteig hatte sich wieder
gefüllt, mit Leuten aus einem anderen Zug.
Ich sah ihn
einsteigen, Er
fährt weg ,
dachte ich. Doch er half nur einer Frau, ihre Koffer herunterzuheben. Sie war
ein hell gekleidetes Pummelchen. Vermutlich eine dieser Amerikanerinnen, die
über und über mit Gepäck beladen reisen, weil sie mit Gepäckträgern rechnen,
mit Burschen aus einer anderen Zeit. Diego zeigte ihr etwas auf einer
Landkarte. Dann war der Bahnsteig wieder leer. Er lag fahl und verlassen da.
Der Himmel war dunkel, vielleicht war der Regen aus Genua über Nacht mit Diego
nach Süden gekommen. Diego hatte sich auf eine Marmorbank gelegt, den Rucksack
unter dem Kopf. Den Stuhl bei sich. Er hob ihn in die Luft, betrachtete ihn,
stellte ihn wieder ab.
Ich trete dicht an
ihn heran.
»He …«
Er zieht sich hoch
wie ein Turner. Nicht ein Wort über meine auffällige Verspätung. Er nimmt meine
Hand, schaut mich eine Weile an, streicht mir eine Haarsträhne von der Wange. »Wie
schön du bist … in meiner Erinnerung warst du auch schön, aber nicht so schön.
Was hast du gegessen, mein Paradies?«
Woher nimmt er solche
Sätze? Er hüpft um mich herum.
»Und ich, wie sehe
ich aus?«
Er trägt eng
anliegende Torerohosen und hat dieses kräftige Körperchen.
»Du siehst gut aus.«
»Ich habe ein
bisschen abgenommen.«
Er gibt mir den
Stuhl.
»Hier.«
»Was ist das?«
»Das ist das
Geschenk. Gefällt es dir nicht?«
»Doch …«
»Das ist mein
Kinderstuhl. Das Einzige, was ich nicht kaputtgemacht habe, er ist nämlich aus
einem sehr haltbaren Kunststoff, ich wollte ihn dir gern schenken.«
Er setzt sich darauf,
mitten im Bahnhof.
»Er passt mir noch,
siehst du? Mein Arsch hat sich nicht verändert.«
Er kommt näher, sucht
meine Augen, öffnet den Mund, um mich zu küssen, ich weiche ein wenig aus,
überlasse ihm nur ein Stückchen Wange. Er zieht mein Kinn hoch.
»Ciao, wie geht’s?«
»Geht so.«
Er ist mir zu nahe,
und ich rieche seinen Atem, seine Liebe ohne Deckung. Wir sind im Freien, im
Gewusel der Stazione Termini.
»Komm, lass uns
gehen.«
Ich gehe voraus, ohne
seine Hand zu nehmen.
Er trägt seinen
Stuhl. Was für eine alberne Idee, einen Stuhl mitzuschleppen.
Mein Motorroller
steht in der Via Marsala. Vor uns taucht das Schild einer der vielen sternlosen
Pensionen am Hauptbahnhof auf. Er zieht mich am Arm und sagt, am liebsten würde
er jetzt in eine dieser Pensionen gehen. Ich sage, sie seien hässlich und
verwahrlost, voller armer Ausländer und schmutziger Pärchen.
Er sagt, er liebe Sex
an verwahrlosten Orten.
»Ich kann gerade
nicht.«
»Nicht zu fassen, du
rufst mich nach all der Zeit an und … gutes Timing.« Er macht ein Gesicht wie
ein Wurm. »Was mich betrifft, kein Problem, ich habe rote Hosen.«
Ich verpasse ihm eine
kräftige Ohrfeige mitten ins Gesicht.
Er lacht: »Bist du
übergeschnappt?«
Mit einem Ruck aus
der Hüfte hebe ich den Motorroller vom Ständer, Diego hält sich hinten mit
seinen langen, angewinkelten Beinen und seinen knochigen Knien fest. Er
umschlingt meine Taille, kitzelt mich. Ich sage, wenn er so weitermacht, fallen
wir hin und bauen einen Unfall. Er sagt, auf dem Motorroller sei ich eine
Niete, andauernd würde ich bremsen. An der Ampel küsst er mir den Nacken, die
Ohren. Wir sehen aus wie zwei Schüler.
Später, in einer Bar,
erzähle ich es ihm. Ich erzähle ihm von dem Schwangerschaftstest in der
Imbissbude und alles andere. Ich bin ruhig, trage eine Sonnenbrille, sehe einem
Körper nach, der vorübergeht. Er sagt nichts, hat sich ein Bier geholt,
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