Das Schützenhaus
schon. In der Kino-Angelegenheit steckte ich tief drin. Mehr als irgend jemand sah, ich glaube, auch Joachim war sich darüber nicht klar. Ich sah aber in jenen Tagen mit übergroßer Deutlichkeit, daß ich an den Kintopp verloren war, möglicherweise als unscheinbarer Gehilfe meines aktiven, dynamischen Bruders ein Leben lang. Man hat lichte Momente, auch wenn man erst vierzehn ist.
Andererseits war ich, trotz der Niederlage bei meinem Flugversuch während des Schützenfestes, entschlossen, meine Interessen auf diesem Gebiet nicht zu vernachlässigen. Ich wollte von nun an Kontakt mit Gleichgesinnten aufnehmen, mich darum kümmern, was die überall aus dem Boden sprießenden Segelfliegerschulen vorhatten, den Flugmodell- und Gleiterbau studieren.
Ohne Zweifel waren diese Interessen mächtiger in mir als die Kino-Interessen. Andererseits war der Kintopp eine Familienangelegenheit, und wir bildeten eine jener Familien, die zusammenhielt, laut Tante Deli »wie Pech und Schwefel«.
Das war damals nicht ungewöhnlich. Sogar Huberts Familienmitglieder hatten sich, trotz Ausweisung aus den nun polnischen Gebieten, nicht in alle Winde verstreut. Sie saßen hier am Stadtrand, keiner mehr als fünf Minuten zu Fuß vom anderen entfernt, und trafen sich bei Ede, weil der einen Garten hatte, in dem man sitzen und Bier trinken und klönen konnte. Und weil er der Bräutigam oder inzwischen der Mann von jener westpreußischen Schönheit war, die zum Hubert-Familienverband gehörte, Huberts Schwägerin. Ede war aufgenommen, die Großfamilie existierte. Und funktionierte.
Genau wie unsere nicht ganz so große Familie funktionierte, »zwischen Feuerland und Jesundbrunnen«, wie Opa scherzte. Auf seinen Schiffsreisen hatte er tatsächlich einen Vetter oder Onkel entdeckt, der in Südamerika ein Geschäft betrieb. KeinSeemannsgarn, in einer Schachtel auf dem Boden lagen Fotos und Postkarten von diesem Onkel.
Vielleicht wurde ich Flieger. Vielleicht fiel ich dem Kino anheim. Vielleicht würden mich die anderen bemerken. Von meiner Existenz Kenntnis nehmen.
Aufgrund der neuen Konstellation setzte Joachim durch, daß er im nächsten April die höhere Schule verließ. Er stieß auf geringen Widerspruch. Mein Vater legte sich ins Bett. Tante Deli sagte, sie wolle lieber die Küche in Ordnung bringen, doch behalte sie sich vor, ihre Meinung zu äußern. War die Angelegenheit entschieden? Mein Bruder ging mit mittlerer Reife ab.
In der Eis-Anneliese sah ich manchmal Hannelore, Zöpfe um den Kopf gewunden, ein massiges Mädchen. An Joachim dachte sie gewiß nicht mehr, genausowenig, wie Joachim an sie dachte. Die Zeit der Lyzen und Mieken war für ihn vorbei. Ich suchte mir Freunde, mit denen zusammen wir die Hannelore in der Eis-Anneliese beglupschten.
Die Anzeigengeschichte war ausgestanden. Wer uns angezeigt hatte, bekamen wir nie heraus. Angeblich war die Polizei anonymen Hinweisen nachgegangen. Oma und Opa waren abgereist, nachdem Opa mit Tees die Bauchschmerzen kuriert hatte, die bei Mitgliedern der Pflaumenorgie einsetzten. »Der Kuchen ist das nicht«, sagte sie. »Ihr habt beim Pflücken zuviel gefressen.«
Das stimmte. Wir taten es Jahr für Jahr, mit denselben Ergebnissen. Wir tranken auch Wasser und Faßbrause auf die Pflaumen. Schweigend litten wir, mit Ausnahme von Anneli. Sie brüllte wie ein Kalb.
Laura und ihre Mutter blieben noch ein bißchen. Mir fiel auf, daß die Mädchen eines Tages ihre Puppen wegpackten. In Annelis Zimmer sah man keine einzige Puppe mehr, nur der Stoffhund saß in einer Ecke auf Annelis Bett. Er hatte ein Ohr verloren, und an der Brust kam die Holzwolle raus.
Statt mit Puppen zu spielen, organisierten die Mädchen Fahrräder. Sie waren jetzt öfter bei der Brücke über dem Graben zu finden. Zu dieser Brücke kamen auch die Jungen aus derLaubenkolonie und aus den Villenstraßen. Manchmal gab es eine Prügelei. Die Mädchen standen an ihre Räder gelehnt, und die Jungen umkreisten sie. Die Jungen rauchten Zigaretten und warfen die Kippen in den Graben, mit lässiger Armbewegung.
Berlin war niemals eine Stadt, die vor Erotik auseinanderbarst, die Vororte schon gar nicht. Jedoch, in diesem Sommer lag etwas in der Luft. In unserem Stadtrandteil wurde es spürbar. Es lag nicht am süßen Duft der Linden. Der wehte jeden Sommer von der Allee herüber, die in die Stadt führte. Es lag auch nicht daran, daß alle Kinder – außer mir – in diesem Jahr erwachsen wurden, jedes auf seine Weise.
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