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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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berichteten.
    Niemals habe ich mit meinem Bruder oder mit anderen Kindern darüber gesprochen. Doch bin ich sicher, daß sie ebenso empfanden. Zille-Miljöhs konnten wir uns nicht vorstellen.
    Tante Deli also, fürs leibliche Wohl und manchmal darüber hinausgehend, wenn auch wirkungslos. Ab und zu drückte Oma uns an ihre wunderbar weichen Riesenbrüste und flüsterte: »Ach, ihr …«
    Zum Anschauen verfügten wir über Kitty und Lauras Mutter, lebendig gewordene Figuren aus Hochglanzmagazinen wie dem »Silberspiegel«. Für die Aufklärung zeichnete verantwortlich Lieschen Radke. Alles war in Butter.
    Was verband mich mit Mariechen; Ein Kind war sie und zugleich uralt wie eine Puppe, deren Porzellankopf Jahrhunderte überdauert hat, aber dennoch das Antlitz der Kindheit zeigt. Ihre Kleider, mit enganliegendem Oberteil und weitschwingenden Röcken, immer aus golden schimmernden Stoffen, schienen aus alten Truhen geborgen. Sie strömten Gewürzdüfte aus. Das Kattunkleid sah ich nur einmal an ihr, auf dem Schützenfest. Mariechen trug es nie wieder.
    Vielleicht liebte ich Mariechen. Der Blick ihrer nachtdunklen Augen schien mir der Beweis, daß sie mich wiederliebte. LieschenRadkes Vorschläge zur Verfeinerung der Technik unserer Beziehung prallten an mir ab. Prallten sie auch an Mariechen ab?
    Ich weiß es nicht.
    Und mein Bruder?
    Ich weiß es nicht. Gelegentlich hüpfte Lieschen vor ihm her, die Stufen der eisernen Treppe zur Vorführkabine hinauf. Manchmal sah ich Joachim auf Sternchens blitzendem Rad davonsausen, er hatte dieses Rad geerbt, unternahm Touren, sagte nie wohin. Einmal, als ich »aus Berlin« kam, sah ich ihn in der Nähe des S-Bahnhofs mit einem Mädchen, das Hannelore aus der Eis-Anneliese ähnelte. Das Mädchen hatte ebenfalls ein Rad dabei, beide schoben die Räder, Joachim links, das Mädchen rechts. Joachims Arm lag um die Taille des Mädchens.
    Ich machte, daß ich wegkam, bevor sie mich entdeckten.
    Jene Epoche war vielleicht glücklich zu nennen, trotz Krieg, Inflation und bald einsetzender Weltwirtschaftskrise, weil die Menschen durch keine Selbstkritik beeinträchtigt wurden. Die Interimsrepublik ritten sie irgendwie ab – ein kavalleristisches Bild, ich kann meinen Vater, den Husaren, nicht verleugnen. Ein Volk, ein Reich, ein Wilhelm II waren sie gewesen, ein Volk, ein Reich, ein Führer leuchtete ihnen ein, sobald es an der Zeit war. Sie erkannten die gewohnte Ordnung wieder, die verlorengegangen war, vorübergehend. Befehlsempfänger waren sie allesamt.
    So sehe ich es heute. Vielleicht war, vielleicht bin ich wie sie. Joachim erscheint mir als Ausnahme. Er ging, unbeirrbar, einen anderen Weg. Einen Weg, den wir nicht begriffen.
    Was mußte geschehen, damit diese Selbstsicherheit erschüttert wurde?
    Bei uns ritt ein kleines bißchen Schicksal hoch zu Roß ein. An einem Vormittag im Frühling sprengte das Mädchen Gila auf ihrem Rappenwallach Ali in den Hof.
    Ein Mädchen war Gila eigentlich nicht mehr, eher eine junge Frau. Natürlich die Tochter oder Nichte eines Regimentskameraden. Da dieser Regimentskamerad als Wachtmeister denDienst quittiert hatte, also eine höhere Charge darstellte als mein Vater, der Gefreite Pommrehnke, mußte der Vorschlag angenommen werden, daß Gila ihr Reitpferd bei uns einstellte. In Boxe eins hing mein Flugapparat, Boxe zwei diente Joachim als Werkstatt. Boxe drei und vier waren frei. Also wurde Ali in Boxe drei eingestellt. Schönicke lieferte Heu und Stroh und füllte Hafer in die Futterkiste. In der Stallgasse hingen Sattel und Zaumzeug.
    »Dieser Spannlackgestank«, beschwerte sich Gila. In eleganten Stiefeln, mit prallsitzenden Reithosen und einer wie Froschhaut grünlich schillernden Bluse stakste sie durch die Stallgasse, ihre Peitsche klopfte an den Stiefel. »Ali mag diesen Gestank nicht«, behauptete sie.
    Ich zuckte die Schultern. Gila erreichte bei meinem Vater, daß Spannlackauftrag nur noch im Freien vorgenommen werden durfte.
    Gila sattelte Ali, schwang sich aufs Pferd und entglitt über die Wiese zum Waldrand, wo kilometerlange Forstwege anfingen. Ihr dunkles, ein wenig rötliches Haar flatterte hinter ihr her, sie trug nie eine Kappe.
    Gila kam täglich zur selben Stunde. Bald verzichtete mein Vater auf sein Bettdasein und machte sich in Hof und Stall zu schaffen. »Morjen, Gila«, hörten wir seine Stimme. »Schönes Wetter heute.«
    Schönes Wetter. Mehr fiel ihm nicht ein? Wo blieben seine kavalleristischen Redewendungen, die hier

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