Das Schützenhaus
angebracht gewesen wären?
Wir sahen, wie mein Vater der Reiterin in den Sattel half – er faltete die Hände vor dem Unterbauch, und sie stieg mit der Stiefelspitze in diesen Tritt. Mit ihren Stiefeln, an denen Stallmist klebte. »Danke, Herr Pommrehnke.« Ihre Stimme war hell, vielleicht das, was man sich unter glockenhell vorstellt. Wenn ich dieses Wort lese, es kommt in Romanen häufig vor, stelle ich mir eine Mischung aus Klingeln und Läuten vor – Schlittenglöckchen und die kleinste Glocke einer Dorfkirche.
Sie gab Ali einen Klaps mit ihrer Peitsche und sprengte davon.
Ihre Haare. Joachim und ich sahen gerne, wenn Gilas Mähne flog, in Zeiten, als andere Frauen Herrenschnitt trugen. Anneli hatte sich die Haare abschneiden lassen. Wenn sie gegen das Licht stand, leuchteten ihre Abstehohren rot auf. »Ein Jammer. Schade um deine Haare«, sagte Tante Deli, und sie drückte damit aus, was wir alle fühlten.
Tante Deli trug nach wie vor ihre Frisur, die sich notfalls zu einem Dutt stecken ließ. Wenn es viel Arbeit gab in der Küche, dann tat sie es. Einzelne Löckchen, über der Schläfe, an der Stirn, machten sich selbständig. Hätte uns jemand gefragt, so hätten wir irgendwas von »schön« genuschelt, oder »uns gefällt’s«.
Es fragte uns aber niemand, nicht einmal Joachim wurde gebeten, über Tante Delis Frisur oder über irgendwelche anderen Dinge, die den Erwachsenen augenscheinlich wichtig waren, seine Meinung zu äußern. Über Hugenberg und Stinnes – der war plötzlich gestorben – und über Rathenau, der ermordet wurde, sprachen sie, mit oder ohne Leidenschaft, je nachdem, wie viele Biere und Korns sie intus hatten. Sie sprachen über die NSDAP und über die Kommunisten, die im Reichstag Stimmen gewannen, und darüber, daß ein gewisser Dr. Goebbels den Gau Berlin führte.
Zur Saalschlacht kam es nicht mehr. Ich wollte nur sagen, daß in der Schützenhaus-Gaststube zwei Welten existierten: die Welt der Erwachsenen und die Welt der Kinder, der wirklichen und der sogenannten. »Ach ihr«, sagte Oma, damit war alles erledigt, alles gesagt. Einmal hörte ich, wie Ede Kaiser erzählte, auch er habe eine Oma – oder handelte es sich um seine Schwiegermutter? –, die »Ach, ihr« sagte.
Vielleicht stammte Edes Ach-ihr-Sagerin aus denselben westpreußischen Regionen wie unsere Oma. Möglich war’s, dieser Vorort Berlins war ziemlich fest in den Händen von Rücksiedlern aus dem Korridor, aus Westpreußen. Miteinander sprachen sie plattdeutsch, im übrigen versuchten sie sich in einer Sprachversion, die sie Hochdeutsch nannten. In den Sprachsumpf des Berliner Icke-dette-kicke-mal wollten sie sich nicht ziehen lassen, aus Karrieregründen.
»Wir sind hier nicht bei Zille«, hieß die Warnung, wenn jemand aus der Familie zu berlinern begann.
Zille, genannt Pinselheinrich, den heute jeder kennt, damals aber nur manche kannten, wie erstaunlicherweise unser Vater, starb in dieser Epoche, die mit Nurmis Weltrekord begann, 1921 lief der skandinavische Aschenbahn-Meister die Meile in vier Minuten zehn Komma vier Sekunden, und die mit Max Schmelings Sieg über Franz Diener endete – so ungefähr. Die Welten der Erwachsenen und der sogenannten Kinder überschnitten sich an zwei Punkten unseres Schützenhaus-Daseins: in Kinofragen und in Fragen der Herrenreiterin Gila.
Wir stellten fest, daß Tante Deli nervös wurde, wenn mein Vater an sich herumpolierte und nach draußen stürzte, sobald er Gila mit ihrem Opelwagen vorfahren sah. Tante Deli neigte nun auch zu kurzen Bemerkungen. »Muß das sein?« fragte sie, »kommt die olle Schrippe nicht alleine in den Sattel?«
Tante Deli erwartete keine Antwort, der Frageton war zufällig, so, wie sie »oder« mit Fragezeichen sagte.
Wenn Anneli uns nicht drauf aufmerksam gemacht hätte, würden wir nicht bemerkt haben, daß Tante Deli sich die Lippen schminkte. Neuerdings. Sie bückte sich, bis sie sich in den Metallteilen der Zapfhähne spiegeln konnte, griff in die Schürzentasche und holte einen Lippenstift heraus. Zack, waren die Lippen bekliert.
Waren alle verrückt geworden? Anneli, nachts, wenn wir zu dritt in einem der Betten zusammenrückten, flüsterte: »Das Gila-Monster ist schuld.«
Gila-Monster? Anneli erklärte, sie habe in einem Tierbuch gefunden, daß Gila-Monster eine Echse sei. »Es gibt eine Echse, die heißt Gila-Monster«, behauptete Anneli. Teilte uns wispernd sogar den lateinischen Namen mit: »Heloderma suspectum.«
»Suspectum
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