Das Schützenhaus
einer Feder, die in einer Agraffe mit blauem Stein steckte. Im Takt der Musik begann Kitty die Hände zu ringen, erst vor dem Schoß, dann über dem Kopf. Sie machte trippelnde Schritte nach rechts und links und warf glühende Blicke aus schwarzumrandeten Augen.
»Bravo«, schrie Lehmann, der hinter mir saß. Das Publikum trampelte und klatschte. Salome – oder Kitty – wackelte mit dem nackten Bauch. »Die braucht Bullerichsalz«, schrie einer, aber die Zuschauer zischten ihn nieder. Die Musik ging ihrem Ende zu. Salome-Kitty stand mit wiederum erhobenen Armen, der Scheinwerfer berieselte sie mit Licht in verschiedenen Farben.
Dann ging das Licht aus. Dröhnender Beifall, Dacapo-Rufe, denen nicht stattgegeben wurde.
Werner Spiehr spielte: »Das war in Schöneberg – im Monat Mai.« Das Publikum sang mit. Über die Leinwand flackerten die ersten Szenen von der »Reise zum Mond«.
9
Opa schickte uns in die Pflaumen: »Lauft, holt ein die erste Ernte! Oma backt Pflaumenkuchen!«
Wir rannten mit Körben und Eimern in den Obstgarten. Joachim und ich vergaßen unsere Würde als Halberwachsene, Anneli und Laura schrien: »Flaumen, Flaumen.«
Sie ließen das P weg wie alle Berliner. Trotz Tante Delis Mahnung, daß bei uns hochdeutsch gesprochen werde. Es war eine Abart von Hochdeutsch. Daß sich Pferd vorne mit einem P schreibt, entdeckte ich erst in der Volksschule, als wir mit farbigen Stiften Marke Posthorn Wörter malten.
Lydia, einen Korb in der linken, einen weißen Emaileimer in der rechten Hand, schlingerte wieder wie ein Schiff, sie kam als letzte, wir zwangen sie, auf den höchsten Ast zu steigen. Lydias Beine waren kräftig, schneeweiß, und in den Kniekehlen leuchteten blaue Adern. Nicht Äderchen, Adern. Joachim und ich wechselten einen Blick voller Verständnis, jene Vorzüge betreffend, die Lydia, kletternd, enthüllte. Der Pflaumenbaum wankte, ein Ast krachte. Lydia stand an den Stamm gepreßt, ihre Kittelschürze hochgerutscht, und sah auf uns hernieder. »Den Korb«, sagte sie.
Wir reichten ihr den Korb und gingen zu den nächsten Bäumen. »Manometer«, murmelte Joachim.
Die Pflaumen wollten ausgewählt sein, noch waren die wenigsten reif. Unter den Bäumen lief Zeppelin hin und her, verschlang von den herunterfallenden Pflaumen die schönsten. Die Kerne spuckte er aus. »Zellepin«, rief Anneli, sie wußte längst, wie der Hund wirklich hieß, aber sie war bei Zellepin geblieben. Ein Kosename nun für unseren, für Vaters und Annelis Hund, dessen Haare um die Schnauze herum grau geworden waren. Zeppelin lief unter den Baum, auf dem Anneli und Laura saßen, im Gegensatz zu Lydia mit schlanken, braungebrannten Beinen, Zeppelin schaute nach oben und wedelte mitdem Schwanz. Anneli warf ihm eine Pflaume zu, die er auffing. Der Kern fiel ihm Sekunden später seitwärts aus dem Maul. »Klöterlämmchen frißt auch Pflaumen«, schnurrte Laura.
Wir pflückten viel zu viele Pflaumen. Lydia mußte die Einweckgläser aus dem Keller holen, umkommen ließen wir nichts. Oft sagte Tante Deli: »Daß mir nichts umkommt.«
Oma und Lauras Mutter rührten Teig und wälzten ihn aus. Bald zog der Duft aus der Küche durchs Haus, im Backofen summten die Kuchen auf großen Blechen. Mein Vater warf die Zeitungen aus dem Bett und kam herunter. »Das hält kein Schwein aus«, sagte er.
Auf dem Herdrand simmerten Bunzlauer Kannen mit Kaffee.
Unser Film- und Tanzprogramm auf dem Schützenfest hatte ein Nachspiel. Genaugenommen sogar zwei Nachspiele, die mit Anzeigen endeten. Ein Polizist auf einem Fahrrad, Tschako in die Stirn gedrückt, von der Schweißtropfen perlten, brachte amtliche Schreiben, deren Empfang mein Vater bestätigte. Wir wurden belehrt, daß wir ohne Genehmigung Schönheitstänze vorgeführt hätten – damit war Kittys Auftritt als Vorstadt-Salome gemeint. Ferner hätten wir Filmstreifen vorgeführt, die nicht von der Zensur genehmigt waren.
»Ich denke, wir leben in einer Demokratie?« sagte mein Vater. »Wozu eine Filmzensur? Leben wir unter Ludendorff ? Dem Kaiser? Nicht einmal unter Friedrich dem Großen gab es eine Filmzensur!«
Durcheinanderredend, belehrten wir unseren Vater, daß es unter Friedrich dem Zweiten auch keine Filme gegeben habe. »Unwichtig«, rief unser Vater. »Jedenfalls gab es unter dem keine Zensur. Und jetzt, unter einer demokratischen Regierung, geht es los.«
Die längste Rede, die mein Vater je gehalten hatte, außerhalb des Themas Husaren. Wir besprachen die
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