Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
in ihren Gärten zu Hause gespielt haben.
Mag es sein, wie es will … genug jetzt von Fred und seinen Sorgen, in Ordnung? Wir wollen seine aufgewühlten Gedanken verlassen und ihm voraus zur Robin Hood Lane Nr. 16 zurückfliegen – direkt zum Ursprung seiner Probleme.
Das Fenster des Elternschlafzimmers im ersten Stock steht offen, und das Fliegengitter ist natürlich kein Hindernis: Wir seihen uns mühelos hindurch und gelangen mit der Brise und den ersten Geräuschen des erwachenden Tages hinein.
Judy Marshall wird keineswegs von den Geräuschen geweckt, mit denen French Landing erwacht. Im Gegenteil, sie liegt bereits schon seit drei Uhr mit starrem Blick wach, sucht die Schatten nach etwas ihr Unbekanntem ab, flüchtet vor Träumen, die zu grässlich sind, um sich an sie zu erinnern. Trotzdem erinnert sie sich an so manche Dinge, auch wenn sie das nicht will.
»Hab das Auge wieder gesehen«, sagt sie in den leeren Raum hinein. Ihr Zunge schnellt heraus, und da Fred nicht in der Nähe ist, um sie zu beobachten (sie weiß, dass er sie beobachtet; sie mag von Ängsten geplagt sein, aber sie ist nicht dumm ), tupft sie nicht etwa nur an die Rinne in der Mitte ihrer Oberlippe, sondern schleckt geradezu darüber wie ein Hund, der sich nach einer großen Schüssel Reste die Schnauze wischt. »Es ist ein rotes Auge. Sein Auge. Auge des Königs.«
Judy sieht zu den Schatten der draußen stehenden Bäume auf. Sie tanzen über die Decke, bilden Formen und Gesichter, Formen und Gesichter.
»Auge des Königs«, wiederholt sie, und dann beginnt die
Sache mit den Händen: kneten und verdrehen und wringen und drücken. »Abbalah! Füchse in Fuchsbauten! Abbalah-doon, der Scharlachrote König! Ratten in ihren Rattenlöchern. Abbalah Munshun! Der König ist in seinem Turm, isst Brot und Mold! Die Brecher sind im Keller, machen all das Gold!«
Sie schüttelt heftig den Kopf. O diese Stimmen, sie kommen aus dem Dunkel, und manchmal erwacht sie mit einer Vision, die ihr hinter den Augen brennt: mit der Vision eines riesigen schiefergrauen Turms, der in einem Feld mit Rosen steht. In einem Feld aus Blut. Dann beginnt das Reden, das Sprechen in Zungen, das Zeugnisablegen in Worten, die sie nicht verstehen und erst recht nicht lenken kann – ein gemischter Strom aus Englisch und Kauderwelsch.
»Dahinschleppen, dahinschleppen, dahinschleppen«, sagt sie. »Die Kleinen schleppen sich auf ihren blutenden Füßchen dahin … Oh, um Himmels willen, hört das nie mehr auf?«
Sie reckt die Zunge weit hinaus und schleckt sich die Nasenspitze ab; für einen Augenblick sind die Nasenlöcher mit ihrem Speichel verklebt, und in ihrem Kopf röhren
- Abbalah, Abbalah-doon, Can-tah Abbalah -
diese schrecklichen fremden Wörter, diese schrecklichen bruchstückhaften Bilder von dem Turm und darunter den brennenden Höhlen, durch die die Kleinen mit blutenden Füßen stapfen. Ihr Verstand setzt sich dagegen zur Wehr, und es gibt nur eine Möglichkeit, die Bilder zum Aufhören zu zwingen, nur ein Mittel, sich Erleichterung zu verschaffen.
Judy Marshall setzt sich auf. Auf dem Nachttisch neben ihr liegen vor der Lampe der neueste Roman von John Grisham, ein kleiner Notizblock (ein Geburtstagsgeschenk von Ty, jedes Blatt mit der Überschrift HIER IST EINE WEITERE GROßARTI-GE IDEE, DIE ICH HATTE!) und ein Kugelschreiber mit dem seitlichen Aufdruck LA RIVIERE SHERATON.
Judy greift nach dem Kugelschreiber und kritzelt auf den Block.
Kein Abbalah kein Abbalah-doon kein Turm keine Brecher kein Scharlachroter König nur Träume alles nur meine Träume
Das genügt eigentlich, aber auch Schreibgeräte sind nur Stra ßen nach überall, und bevor sie die Spitze dieses Geräts vom
Geburtstagsblock heben kann, schreibt es zwei weitere Zeilen:
Das Schwarze Haus ist der Eingang zu Abbalah das Tor zur Hölle Sheol Munshun alle diese Welten und Geister
Schluss damit! Barmherziger Gott, Schluss damit! Und das Schlimmste: Was ist, wenn das alles anfängt, einen Sinn zu ergeben?
Sie wirft den Kugelschreiber wieder auf den Nachttisch, wo er zum Lampenfuß rollt, um dann dort liegen zu bleiben. Sie reißt das Blatt vom Notizblock, knüllt es zusammen und schiebt es sich in den Mund. Sie kaut wie wild, kann es nicht zerbeißen, weicht es aber ein und schluckt es dann. Nun folgt ein schrecklicher Augenblick, als es ihr nämlich im Hals stecken bleibt, aber dann bekommt sie es doch hinunter. Wörter und Welten weichen zurück, und Judy sinkt erschöpft in
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