Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
in der Hitze des Gefechts dich niederschlagen?
Judy setzte einen erstaunten Blick auf. Auf die Idee wäre ich nie gekommen, sagte sie.
Die Camelot Street mündet schließlich in die Chase Street, wo an klaren Tagen wie heute ein hübscher kleiner Blick auf den Mississippi zu erhaschen ist, aber so weit läuft Fred nicht. Er kehrt schon auf dem höchsten Punkt von Liberty Heights um und trabt mit jetzt schweißnassem Hemd auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen ist. Im Allgemeinen fühlt er sich beim Joggen besser, nicht so heute, zumindest noch nicht. Die furchtlose Judy jenes Nachmittags an der Kreuzung von State Street und Gorham Street hat so wenig Ähnlichkeit mit der unstet blickenden, manchmal zusammenhanglos redenden Judy, die jetzt in seinem Haus lebt – diese Nickerchen machende, Hände ringende Judy -, dass Fred darüber tatsächlich mit Pat Skarda gesprochen hat. Das war gestern, als der Doc bei Goltz’s war, um sich Rasentraktoren anzusehen.
Fred hatte ihm zwei gezeigt, einen Deere und einen Honda, sich nach seiner Familie erkundigt und dann (beiläufig, wie er hoffte) gefragt: He, Doc, mich würde was interessieren – glauben Sie, dass jemand einfach so verrückt werden kann? Ohne Vorwarnung oder so?
Skarda musterte ihn durchdringender, als es Fred recht war. Reden wir von einem Erwachsenen oder einem Jugendlichen, Fred?
Nun, wir reden eigentlich von niemandem. Lautes, herzliches Lachen – in Freds Ohren klang es allerdings nicht sehr überzeugend, und nach Pat Skardas Blick zu urteilen auch für diesen nicht. Jedenfalls nicht von wirklichen Menschen. Aber als hypothetischen Fall könnten wir sagen, dass es sich um einen Erwachsenen handelt.
Skarda dachte darüber nach und schüttelte dann den Kopf. In der Medizin gibt es nur wenige unumstößliche Tatsachen und in der psychiatrischen Medizin noch weniger. Also, ich halte
es für sehr unwahrscheinlich, dass ein Mensch »einfach verrückt wird«. Es kann sich zwar um einen ziemlich rasch ablaufenden Vorgang handeln, aber ein Vorgang ist es nichtsdestotrotz. Wir bekommen zwar oft zu hören, »Soundso ist plötzlich übergeschnappt«, aber das ist eher selten wirklich der Fall. Mentale Dysfunktion – neurotisches oder psychotisches Verhalten – entwickelt sich über längere Zeit hinweg, und es gibt vorher meistens irgendwelche Anzeichen. Wie geht’s eigentlich derzeit Ihrer Mutter, Fred?
Mutter? Oh, der geht’s gut. Alles im grünen Bereich.
Und Judy?
Er brauchte einen Augenblick, um ein Lächeln zuwege zu bringen, das dann aber zu einem umso strahlenderen wurde. Breit und arglos. Judy? Der geht’s auch gut, Doc. Natürlich geht’s ihr gut. So gut wie immer.
Klar. So gut wie immer. Sie lässt nur ein paar Anzeichen erkennen, sonst nichts.
Vielleicht geben sie sich wieder, denkt er. Die guten alten Endorphine beginnen endlich zu wirken, und plötzlich erscheint ihm sein Gedanke plausibel. Optimismus ist sowieso ein normalerer Gemütszustand für Fred, der nicht an Verwerfungen glaubt. Auf seinem Gesicht erscheint ein kleines Lächeln – das erste des heutigen Tages. Vielleicht geben die Anzeichen sich ja wieder. Vielleicht verschwindet diese Phase ebenso schnell, wie sie aufgetreten ist. Vielleicht ist sie sogar, nun ja, menstrual bedingt. Wie PMS.
Gott, wenn’s nicht mehr wäre, welche Erleichterung ! Er sollte sich jetzt viel lieber Gedanken über Ty machen. Er muss mit Tyler unbedingt über die Vorzüge der Cliquenanbindung reden. Obwohl Fred zwar nicht glaubt, was Wendell Green offenbar zu unterstellen versucht – dass der Geist eines um die vorige Jahrhundertwende berüchtigten Kannibalen und Allround-Schreckgespensts namens Albert Fish aus irgendeinem Grund hier im Coulee Country aufgetaucht ist -, ist dort draußen eindeutig irgendjemand unterwegs, und dieser Irgendjemand hat bereits zwei kleine Kinder ermordet und mit den Leichen unaussprechliche (zumindest für Leute, die nicht Wendell Green heißen) Dinge angestellt.
Oberschenkel, Rumpf und Gesäßbacken mit Bissspuren, denkt Fred und rennt wieder schneller, obwohl bei ihm ein Seitenstechen eingesetzt hat. Um es noch einmal klar zu machen: Er glaubt nicht, dass diese Schrecken seinem Sohn wirklich etwas anhaben können, und auch nicht, dass sie Judys Zustand ausgelöst haben könnten, da ihr seltsames Verhalten ja schon begonnen hat, als Amy St. Pierre noch lebte, Johnny Irkenham natürlich auch, zu einer Zeit also, als beide vermutlich noch glücklich und zufrieden
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