Das schwarze Haus - King, S: Schwarze Haus
die Kissen zurück. Ihr Gesicht wirkt blass und verschwitzt, die Augen wie von nicht vergossenen Tränen geweitet, aber die sich bewegenden Schatten an der Decke erscheinen ihr jetzt nicht mehr wie Gesichter – die Gesichter dahinstapfender Kinder, von Ratten in ihren Rattenlöchern, Füchsen in Fuchsbauten, Auge des Königs, Abbalah-doon! Jetzt sind sie wieder nur die Schatten der Bäume. Sie ist Judy DeLois Marshall, die Frau Freds, die Mutter Tylers. Dies ist Libertyville, dies ist French Landing, dies ist French County, dies ist Wisconsin, dies ist Amerika, dies ist die Nordhalbkugel, dies ist die Welt, und es gibt keine andere Welt als diese. So sei es.
Ach, so sei es.
Sie schließt die Augen, und während sie endlich wieder einschläft, huschen wir durchs Zimmer zur Tür, aber kurz bevor wir sie erreichen, sagt Judy Marshall noch etwas – sagt es, während sie die Grenze zum Schlaf überschreitet.
»Burnside ist nicht dein wahrer Name. Wo ist dein Loch?«
Die Schlafzimmertür ist geschlossen, weshalb wir das Schlüsselloch benützen, durch das wir einem Seufzer gleich entschlüpfen. Wir folgen dem Flur, in dem Fotos von Judys und Freds Angehörigen hängen, darunter auch ein Foto, das die Farm der Familie Marshall zeigt, die Farm, auf der Fred und Judy bald nach ihrer Hochzeit eine grässliche, aber Gott sei
Dank nur kurze Zeit verbrachten. Möchten Sie einen guten Rat? Reden Sie mit Judy Marshall nicht über Freds Bruder Phil. Lassen Sie sie bloß nicht darüber in Fahrt kommen, wie George Rathbun zweifellos sagen würde.
Die Tür am Ende des Flurs besitzt kein Schlüsselloch, und deshalb schlüpfen wir wie ein Telegramm darunter hindurch in einen Raum, den wir sofort als das Zimmer eines Jungen erkennen, wie uns die Geruchsmischung aus schmutzigen Sportsocken und Lederpflegemittel verrät. Er ist klein, dieser Raum, wirkt aber größer als das Elternschlafzimmer vorn im Flur, was höchstwahrscheinlich daran liegt, dass hier der Angstgeruch fehlt. An den Wänden hängen Bilder von Shaquille O’Neal, Jeromy Burnitz, dem letztjährigen Team der Milwaukee Bucks … und von Mark McGwire, Tyler Marshalls Idol. McGwire spielt für die Cardinals, und die Cardinals sind eigentlich der Feind, aber hol’s der Teufel, schließlich sind die Milwaukee Brewers ohnehin keine Konkurrenz für irgendjemanden. Die Brew Crew war vordem ein Fußabstreifer in der American League, und jetzt ist sie einer in der National League. Und McGwire … nun, er ist eben ein Held, oder nicht? Er ist stark, er ist bescheiden, und er kann den Baseball glatt eine Meile weit schlagen. Sogar Tylers Dad, der für gewöhnlich nur Teams aus Wisconsin anfeuert, hält McGwire für etwas Besonderes. »Der größte Hitter der Baseballgeschichte«, hat er ihn nach der Spielzeit genannt, in der siebzig Homeruns gelangen, und obwohl Tyler in jenem Fabeljahr noch kaum den Windeln entwachsen war, hat er diesen Ausspruch nie vergessen.
Ebenfalls im Zimmer dieses kleinen Jungen, der bald das vierte Opfer des Fishermans werden wird (es gibt ja bereits ein drittes, wie wir gesehen haben), hängt auf dem Ehrenplatz direkt über dem Bett ein Reiseplakat, das ein großes düsteres Schloss am Ende einer langen, nebelverhangenen Wiese zeigt. Unten auf dem Plakat, das er mit Klebeband an der Wand befestigt hat (seine Mutter duldet absolut keine Reißzwecken), steht in großen grünen Lettern eine Einladung: KEHRT HEIM INS ALTE LAND. Ty hat schon überlegt, ob er das Plakat wieder abnehmen soll, um diesen unteren Teil abzuschneiden. Das
Plakat gefällt ihm nämlich nicht deshalb, weil Irland ihn interessiert – ihm scheint dieses Bild vielmehr flüsternd von irgendwo anders, von irgendwo ganz anders zu erzählen. Es gleicht einem Foto aus irgendeinem herrlichen mythischen Königreich, in dessen Wäldern es Einhörner, in dessen Höhlen es Drachen geben könnte. Vergesst Irland, vergesst auch Harry Potter! Hogwarts mag für Sommernachmittage in Ordnung sein, aber das hier ist ein Schloss im Königreich des Ganz Anderen. Tyler Marshall sieht es jeden Morgen als Erstes und jeden Abend als Letztes, und genau das gefällt ihm.
Er liegt jetzt nur mit einer Unterhose bekleidet auf der Seite zusammengerollt, ein menschliches Komma mit zerzaustem dunkelblonden Haar und einem Daumen so dicht am Mund, dass er wirklich nur einen Hauch davon entfernt ist, zwischen die Lippen geschoben zu werden. Er träumt – wir können sehen, wie die Augäpfel sich hinter den
Weitere Kostenlose Bücher