Das schwarze Manifest
und rannte sofort aus der Scheune. Von der Überlandstraße her kamen riesige eiserne Ungetüme aufs Dorf zugerasselt. Das vorderste machte zwischen den Häusern halt. Leonid stand auf der Straße, um es besser sehen zu können.
Es wirkte riesig, so groß wie ein Haus, aber es fuhr auf Ketten und hatte eine lange Kanone, die nach vorn wies. Ganz oben über der Kanone stand ein Mann, dessen Oberkörper ins Freie ragte. Er nahm seinen dick gepolsterten Helm ab und legte ihn neben sich. Dann drehte er sich zur Seite und blickte auf Leonid herab.
Das Kind sah, daß dieser Mann fast weißblondes Haar und so blaßblaue Augen hatte, als leuchte der Sommerhimmel von hinten geradewegs durch seinen Schädel. Aus seinem ausdruckslosen Blick sprach weder Liebe noch Haß, nur eine gewisse Langeweile. Der Mann griff ziemlich langsam an sein Koppel und zog eine Pistole aus ihrer Ledertasche.
Irgend etwas sagte Leonid, daß hier etwas nicht stimmte. Er hörte das dumpfe Krachen von Handgranaten, die durch Fenster geworfen wurden, und gellende Schreie. Er bekam Angst, machte kehrt und lief weg. Dann hörte er einen Knall, und irgend etwas zerzauste ihm die Haare. Er flüchtete hinter den Viehstall, begann zu weinen und rannte weiter. Hinter sich hörte er ein stetiges Hämmern, und der Geruch nach brennendem Holz wurde stärker, als immer mehr Häuser in Flammen aufgingen. Er sah den Wald vor sich und lief weiter.
Im Wald wußte er nicht, was er tun sollte. Er schluchzte noch immer, rief nach seiner Mama und seinem Papa. Aber sie kamen nicht. Sie kamen niemals mehr.
Er begegnete einer Frau, die laut um ihren Mann und ihre Töchter weinte, und erkannte Gosposcha Dawidowa, die Frau des Bäckers. Sie umarmte ihn und drückte ihn an ihren Busen, und er verstand nicht, warum sie das tat – und was würde sein Vater denken, weil sie doch eine
Jewreijka
war?
Das ganze Dorf war niedergebrannt, und die SS-Panzerabteilung hatte kehrtgemacht und war weitergerasselt. Im Wald fanden sich einige weitere Überlebende zusammen: Später trafen sie auf Partisanen: harte, bärtige bewaffnete Männer, die in den Wäldern hausten. Unter Führung eines Partisanen zog die Flüchtlingskolonne nach Osten, immer weiter nach Osten.
Wenn Leonid müde wurde, trug Gosposcha Dawidowa ihn, bis sie endlich nach vielen Wochen Moskau erreichten. Dort schien sie einige Leute zu kennen, von denen sie Unterkunft, Essen und Trost erhielten. Sie waren nett zu ihm und sahen mit ihren Ringellocken von den Schläfen bis zum Kinn und den breitkrempigen Hüten wie Gospodin Dawidow aus. Obwohl Leonid kein
Jewreij
war, bestand Gosposcha Dawidowa darauf, ihn zu adoptieren, und versorgte ihn jahrelang.
Nach dem Krieg entdeckten die Behörden, daß er nicht wirklich ihr Sohn war, trennten die beiden und wiesen ihn in ein Waisenhaus ein. Als sie Abschied nehmen mußten, schluchzte er herzzerreißend, und sie weinte ebenfalls laut, aber er sah sie nie wieder. Im Waisenhaus lernte er dann, daß
Jewreij
einen Juden bezeichnete.
Der Hase saß auf seiner Bank und dachte über das Schriftstück unter seinem Hemd nach. Er begriff nicht völlig, was Ausdrücke wie »totale Extermination« oder »völlige Annihilation« bedeuteten. Diese Wörter waren zu lang für ihn, aber er glaubte nicht, daß es gute Wörter waren. Er konnte nicht verstehen, warum Komarow das Menschen wie Gosposcha Dawidowa antun wollte.
Im Osten erschien ein rosa Streifen am Morgenhimmel.
Jenseits des Flusses in einem großen Stadtpalais am Sofiskaja-Kai klemmte ein Royal Marine sich eine zusammengelegte Flagge unter den Arm und begann die Treppe zum Dach hinaufzusteigen.
Der Skipper griff nach seinem Daiquiri, stand vom Tisch auf und trat an das massive Holzgeländer. Er sah ins Wasser hinunter und blickte dann auf den in der Abenddämmerung liegenden Hafen hinaus. »Neunundvierzig«, sagte er sich. »Neunundvierzig und noch immer Schulden beim Company Store. Jason Monk, du wirst langsam alt und taugst nichts mehr.«
Er nahm einen Schluck und fühlte die von dem Rum mit Limonensaft ausgehende wohlige Wärme.
»Hol's der Teufel, es ist ein ziemlich gutes Leben gewesen. Jedenfalls ereignisreich.«
Dabei hatte es nicht so angefangen. Begonnen hatte es in einem recht bescheidenen Holzhaus in der Kleinstadt Crozet im Süden Mittelvirginias, unmittelbar östlich des Shenandoah-Nationalparks, fünf Meilen von der Fernstraße von Waynesboro nach Charlotteville entfernt.
Albemarle County ist ein
Weitere Kostenlose Bücher