Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
verschwunden. Der Mann vor ihm war plötzlich von Kopf bis Fuß Hochwürden Mr Tugwell und in der Tat sehr würdig.
Widersprüchliche Gefühle stritten in Edward um die Oberhand. Er stand auf. Er wollte den Mann schlagen, gekränkt abmarschieren oder … lachen. Unsinnigerweise setzte sich der letzte Impuls durch. Ein Lächeln erhellte seine finstere Miene und er lachte leise in sich hinein.
»Was ist los?«, fragte Charles gereizt.
Edward lachte immer lauter, krümmte sich und stützte die Hände auf die Knie.
Der Pfarrer runzelte die Stirn. »Ich sehe nicht, was ich Lustiges gesagt haben sollte, um solche Erheiterung auszulösen.«
Edward legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. »Ich wollte, Sie hätten Ihr Gesicht gerade eben sehen können. Ich wollte, Ihr Vater hätte es gesehen. Wie es vor gerechtem Zorn strahlte! Er wäre sehr stolz auf Sie gewesen.«
»Sie machen sich über mich lustig.«
»Ganz und gar nicht. Alles, was Sie gesagt haben, war völlig zutreffend.« Edward klopfte seinem Freund auf den Rücken und der kleinere Mann fiel fast nach vorne. »Ich war wie gelähmt, aber Sie haben mich da herausgerissen, Charles, und ich bin Ihnen dankbar dafür.« Er legte den Arm um den Pfarrer und drehte ihn zur Tür. »Sie sollten wirklich Ihre Predigten auf diese Weise vortragen. Die alten Männer würden wach bleiben und die Witwen würden in Ohnmacht fallen.«
Charles Tugwell verabschiedete sich, aber Edward beachtete nicht, wie sein Freund sich zurückzog. Stattdessen hatte er andere Szenen vor Augen, Erinnerungsfetzen von Begegnungen und Gesprächen mit Olivia. Andrew in ihrem Bett … wie sie sein Pferd zusammen gestriegelt hatten … die verstohlenen Momente in Matthews' Werkstatt, als sie gemeinsam am Puppenhaus gearbeitet hatten … das Eislaufen mit den Kindern … wie sie seinen Namen im Schlaf ausgesprochen hatte … die köstliche Tanzstunde …
Was für ein Narr war er gewesen, was für ein unvernünftiger Narr. Ihm wurde hier und jetzt klar, dass er so nicht weitermachen konnte, dass er nicht länger an etwas festhalten würde, das ihm nicht gehörte. Es machte ihn zu einem reizbaren, misstrauischen Tölpel, der jeden anfletschte und ständig in der Angst lebte, sein Geheimnis könnte offenbar werden. Es musste aufhören. Das war es nicht wert.
Edward schritt eilig und mit großer Zielstrebigkeit den Korridor entlang, im Bewusstsein, dass das neue Leben, von dem Tugwell gesprochen hatte, das ihm aufgezwungen worden war, wenigstens einen Vorteil hatte. Er konnte heiraten, wen er wollte, ohne Rücksicht auf Rang und soziale Verbindungen.
Auf dem Weg zum Kinderzimmer nahm er immer drei Stufen auf einmal und ignorierte die weit aufgerissenen Augen eines jungen Dienstmädchens, das ihm mit langsamen Schritten entgegen kam. Er klopfte an Olivias Tür und als keine Reaktion kam, eilte er den Gang entlang und stürmte ins Schulzimmer. Es verblüffte ihn, seinen Vater dort zu sehen. Dieser stand am Fenster und spähte hinaus.
»Sie ist nicht mehr da, Edward.«
Edward sank das Herz. »Nicht mehr da? Ist sie weggelaufen?«
»Nein, nicht ›weggelaufen‹. Das konnte ich verhindern, aber auch nur mit knapper Not. Deine Fehler auszubügeln, ist keine leichte Aufgabe.«
»Ich war im Unrecht, ich weiß. Vollkommen, unverzeihlich im Unrecht. Hast du ihr nicht gesagt, dass ich nie wirklich geglaubt habe, sie wäre für diese Briefe verantwortlich? Ich war wütend, ohne Sinn und Verstand. Ich dachte nicht –«
Sein Vater hob eine Hand. »Ja, ja, aber sie wollte das Haus trotzdem verlassen.«
Edward wischte sich mit der Hand übers Gesicht. »Wo ist sie?«
Der Earl setzte sich an den Schreibtisch und wirkte zum ersten Mal, seit Edward sich erinnern konnte, älter als er war. »Ich halte es im Moment für das Beste, es dir nicht zu sagen«, antwortete er. »Ich glaube, es wäre unklug von dir, ihr jetzt hinterherzuhetzen, wenn ihr so viel daran gelegen war, von hier wegzukommen.«
»Von mir wegzukommen.«
»Nun ja, das stimmt. Und kannst ihr das verdenken, nachdem du sie der Erpressung beschuldigt hast, ganz zu schweigen von deiner alles andere als begeisterten Reaktion auf die Idee, sie zu meinem Mündel zu machen?«
Edward stöhnte. »Sie kann gern dein Mündel sein. Sie kann von mir aus auch deine Tochter sein. Ich bin bereit, diese Scharade zu beenden. Felix kann alles bekommen – den Titel, das Anwesen, die Adelswürde. Ich will nur –«
Als er seinen Satz abbrach, zog der Earl die
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