Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
machte ein finsteres Gesicht. »Und sie werden bald noch härter.«
42
Mein Kindermädchen war meine Vertraute. Bei ihr redete ich mir meinen Kummer von der Seele.
Winston Churchill, My Early Life
Olivia hatte Audrey und Andrew im Stich gelassen und war abgereist, ohne sich von den Menschen, die sie in Brightwell Court ins Herz geschlossen hatte, zu verabschieden – auch Miss Ludlow und Mr Tugwell hatte sie nicht auf Wiedersehen gesagt. Das bedauerte sie sehr. Trotzdem verbrachte sie eine wesentlich angenehmere Zeit bei der Familie ihrer Mutter, als sie erwartet hätte. Sie hatte sich Sorgen gemacht, wie Mr Crenshaw ihr begegnen würde, nachdem ihre Mutter eine so unpassende Ehe geschlossen hatte und jetzt verschwunden war und es möglicherweise eines Tages einen Skandal geben könnte. Aber Mr Crenshaw, ein kleiner, kahl werdender Mann mit fröhlichem Gesicht und lustigen braunen Augen, versicherte ihr herzlich, dass er sich ziemlich daran gewöhnt habe, skandalträchtige Hawthorns bei sich aufzunehmen, die von zu Hause vertrieben worden und vom Glück verlassen seien – und dass es ihm außerordentlich gefallen würde, die nächste von ihnen unter seine Fittiche zu nehmen. Es sei schon zu lange her, seit er dies das letzte Mal getan habe, fügte er augenzwinkernd hinzu und lächelte seine Frau an. Olivia musste unwillkürlich auch lächeln.
Wie Olivia aufgrund der wenigen Zeilen vermutet hatte, die Georgiana Crenshaw unter die Nachricht ihrer Großmutter gesetzt hatte, mochte sie ihre Tante auf Anhieb. Sie war herzlich und liebenswürdig und benahm sich ungezwungen und ungekünstelt. Vielleicht lag es an der Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, auf jeden Fall hatte Olivia das Gefühl, Georgiana schon seit Jahren zu kennen.
Ihre Großmutter war zunächst etwas vorsichtig und steif und stellte Olivia viele Fragen über ihre Kindheit und Erziehung. Zu Olivias Erleichterung vermied sie es, nach Mr Keene zu fragen. Trotzdem merkte Olivia, dass sich ihre Großmutter ernsthaft Mühe gab, die fast unbekannte Enkelin willkommen zu heißen. Das rührte sie.
Die Crenshaws bedrängten sie, so lange zu bleiben, wie sie wollte. Olivia hoffte, im Herbst mit dem Unterricht in der Schule anfangen zu können, und nahm dankbar die Einladung an, den Sommer in Faringdon zu verbringen.
Olivia war noch keine Woche bei ihren Verwandten, als der Lakai der Crenshaws Lord Brightwell ankündigte und ihn in den Morgensaal führte. Olivia stand auf und war in seiner Gegenwart plötzlich nervös, was sie vorher nicht so erlebt hatte. Dass seine sonst so gelassene Miene angespannt wirkte, verstärkte ihre Aufregung noch.
»Geht es den Kindern gut?«, fragte sie.
»Ja, obwohl sie natürlich enttäuscht waren, als sie von Ihrer … Abreise … erfuhren.«
»Ist Mrs Howe sehr ärgerlich?«
Er lachte freudlos. »Ich denke, meine Nichte wittert ein neues Geheimnis, dem sie auf den Grund gehen möchte.«
Olivia hätte zu gern gewusst, wie Lord Bradley auf ihr Verschwinden reagiert hatte, aber sie wollte nicht danach fragen. Plötzlich fiel ihr wieder ein, was sich gehörte, und sie sagte: »Bitte, nehmen Sie Platz.« Sie setzte sich auf ihren Stuhl zurück, aber er blieb stehen. Er zog etwas aus seiner Jackentasche.
»Olivia, ich habe etwas für Sie.«
»Bitte nicht noch ein Geschenk! Sie haben mir schon viel zu viel geschenkt.«
»Nein, dieses Mal nicht.« Sein ernster Tonfall erschreckte sie.
»Was ist es?«
Er entfaltete ein rechteckiges Blatt aus dickem Papier und hielt es ihr hin. Sie nahm es so vorsichtig entgegen, als fürchte sie, davon gebissen zu werden. Sie hielt die gedruckte Nachricht schräg, damit das Licht vom Fenster besser darauf fiel, las sie schnell, hielt die Luft an und las sie noch einmal.
Olivia Keene
24 Jahre alt, dunkle Haare, blaue Augen
Wer Informationen über sie geben kann, melde sich bitte bei der
Mädchenschule St. Aldwyns
»Wo haben Sie das her?«, hauchte Olivia.
»Es wurde von einem bezahlten Boten gebracht, der nicht sagen konnte oder wollte, von wem es kam.«
Olivia wurde gleichzeitig von Angst und Hoffnung erfüllt. »Das Blatt sieht ein bisschen verblasst aus, und ich bin inzwischen fünfundzwanzig. Vielleicht hat mein Vater das abgeschickt, bevor er nach Brightwell Court kam.«
»Meinen Sie? Aber warum sollte er die Vermittlung einer Schule in Anspruch nehmen?«
»Weil er schlau ist. Er wusste, ich würde denken, dass meine Mutter nach mir suchte. Oder es könnte auch von ihr ausgehen«,
Weitere Kostenlose Bücher