Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
tun.«
Spät an diesem Abend, nachdem sie lange bei Tee und Sandwiches mit Lord Brightwell und den Kindern zusammengesessen hatten, brachten Edward und Olivia Audrey und Andrew hoch ins Kinderzimmer. Sie verteilten viele Umarmungen und Küsse, bevor Becky sie mitnahm, um sie ins Bett zu bringen.
Zusammen stiegen sie die Stufen wieder hinunter, aber statt in die Bibliothek zurückzukehren, blieb Edward in der Eingangshalle stehen.
»Begleiten Sie mich auf einem Spaziergang durch den Garten, Olivia?«
Sie spürte eine prickelnde Vorfreude. »Gern.«
Sie gingen an der Friedhofsmauer entlang, durch die Laube und um das Haus herum. Als sie den Baum sah, unter dem sie Edwards Geheimnis belauscht hatte, stellte sie sich daneben. Sie fuhr mit den Fingern über die raue Rinde und erinnerte sich an jenen Abend.
Als hätte Edward ihre Gedanken gelesen, sagte er: »Da kommen Erinnerungen auf. Aber dieses Mal werde ich mich hinter dem Baum mit Ihnen verstecken. Macht es Ihnen etwas aus?«
Olivia schüttelte den Kopf. Ihr Herz schlug schneller und ihre Kehle fühlte sich plötzlich eng an.
Er trat vor und nervös machte sie einen Schritt rückwärts. Er trat noch näher. Sie stieß mit dem Rücken an den Baum, konnte sich nicht weiter zurückziehen und nicht bewegen. Sie wollte sich auch nicht bewegen.
»Du weißt, warum ich mich dagegen gewehrt habe, dass Vater dich als seine Tochter anerkennt, nicht wahr?«
Sie zuckte die Achseln. Sie ahnte die Antwort, wollte sie jedoch von ihm selbst hören.
»Weil meine Gefühle für dich … alles andere als brüderlich sind.«
Er strich mit seinem Finger an ihrer Wange entlang und sie erbebte. Dann zeichnete er mit dem gleichen Finger die Form ihrer Lippen nach und sie konnte fast nicht mehr atmen. Er flüsterte: »Weißt du, wie lange ich dich schon küssen will?«
Sie schüttelte den Kopf, weil sie ihrer Stimme nicht traute.
»Nicht, als ich dich das erste Mal hinter diesem Baum sah, das gebe ich zu. Da wollte ich dich erwürgen.« Er verzog das Gesicht. »Entschuldigung, das war schlecht formuliert.«
Sie brachte ein zitterndes Grinsen zustande.
Er legte seine Hände auf ihre Schultern, ließ seine warmen Finger langsam an ihren nackten Armen hinunter gleiten und dann wieder nach oben. Ein angenehmer Schauder ging über sie hinweg.
»Ich glaube, es war, als ich sah, wie du Andrew auf dem Rasen herumgeschwungen hast. Oder war es, als ich dich und Andrew schlafend in deinem Bett sah, dein offenes Haar um dich herum und nur ein hauchdünnes Nachthemd an dir?« Er blinzelte ihr schelmisch zu.
Sie flüsterte bebend: »Mir scheint, ich habe Andrew viel zu verdanken.«
Er lächelte auf sie herab. Er führte seine Hände noch einmal an ihren Armen hinauf und legte sie dann an ihre erhitzten Wangen. »Du glühst ja.«
»Ich weiß.«
Er umhüllte ihr Gesicht mit seinen Händen und beugte sich vor, Auge in Auge mit ihr, bis sich sein Blick auf ihren Mund hinabsenkte. Im letzten Moment, bevor ihre Lippen sich berührten, schloss sie die Augen und nahm ihn mit allen Sinnen wahr. Seinen würzigen, männlichen Duft, seine kühlen Finger an ihren Wangen, seine warmen Lippen auf ihren. Er küsste sie zuerst mit unendlicher Zärtlichkeit, dann immer drängender und leidenschaftlicher.
Als er den Kuss schließlich beendete, atmete er schwer und seine Stimme war heiser. »Ich liebe dich, Olivia. Hast du eine Vorstellung davon, wie sehr?«
»Nein«, wisperte sie. »Aber ich hoffe, die Zahl ist sehr, sehr hoch.«
Er küsste sie noch einmal, dann hob er den Kopf und betrachtete zärtlich ihren unbedeckten Hals, ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Augen. »Habe ich dir schon gesagt, wie wunderschön du heute Abend aussiehst?«
»Ein paar Mal, ja«, antwortete sie mit atemloser Stimme.
»Du siehst aus wie eine Herzogin … oder eine Gräfin. Ich wünschte, ich hätte dich zu einer Gräfin machen können.«
»Das wollte ich niemals sein.«
»Wolltest du nicht?«
»Nein, alles, was ich sein wollte, seit längerer Zeit schon, war einfach …«
Als sie stockte, fing er an zu raten: »Frei? Eine Lehrerin? Wieder vereint mit deiner Mutter?«
Olivia schüttelte den Kopf. »Ich wollte einfach die Deine sein. Ich wollte dir gehören.«
Er lächelte sie so zärtlich an, dass es sie beinahe schmerzte.
Plötzlich wurde er ernst. Er führte sie zur Veranda und dort, unter dem Licht einiger Fackeln, blickte er eindringlich und warm auf sie herab. »Ich habe etwas für dich.«
Er zog etwas aus
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