Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
dazu führte, dass die Tränen aus seinen Augen liefen und über seine Wangen rannen, die schmaler waren als je zuvor.
Er seufzte und lehnte sich zurück. »Ich hab keinen Tropfen mehr angerührt, seit der Nacht, als ich mich in Brightwell Court so schrecklich aufgeführt habe. Ich habe außerdem gebetet, das erste Mal in meinem Leben. Dieser Pfarrer, Tugwell, er hat mir geholfen – nicht meine Fehler zu erkennen, denn die kannte ich schon allzu gut, sondern zu sehen, was mir fehlte. Ich bin alles andere als vollkommen, ich weiß. Aber ich habe mich verändert und werde mich weiter verändern. Ich weiß, es ist zu spät für Dorothea und mich. Wenn die Nachricht sie erreicht, dass ich aufgehängt wurde, wo immer sie sich auch aufhält, wird sie bestimmt doch noch ihren Oliver heiraten. Ich hoffe, dass sie dann endlich glücklich wird.«
Olivia schüttelte den Kopf. »Sie hat dich nicht seinetwegen verlassen. Sie glaubte, fliehen zu müssen, weil sie von jemand bedroht wurde. Der Mann hat sie beinahe umgebracht.«
Bestürzt verfinsterte sich sein Gesicht. »Was? Ich werde diesen Schuft töten! Wer ist der Kerl?«
»Genau aus diesem Grund hat sie es dir nicht erzählt. Sie wusste, dass du den Mann umbringen und am Galgen enden würdest und das wollte sie nicht.«
Bedauernd sah er zu Boden. »Nun, so werde ich ohnehin enden, und ich hätte lieber mein Leben dafür gegeben, sie zu beschützen.« Seine Stimme wurde schwer vor lauter Emotionen. »Ich würde das tun, weißt du. Ich würde mein Leben für sie opfern.«
»Ich weiß, dass du das tun würdest«, flüsterte Dorothea Keene.
Olivia schaute über ihre Schulter. Ihre Mutter stand schüchtern auf der Schwelle. Als Olivia wieder zu ihrem Vater blickte, stand sein Mund offen und er schien wie vom Blitz getroffen. Er starrte Dorothea an, als traute er seinen Augen nicht. Als wäre es das letzte Mal.
»Du hast dein Leben vor langer Zeit für mich hergegeben«, sagte sie in ruhigem Ton. »Als du mich geheiratet hast, obwohl du wusstest, dass ich das Kind eines anderen Mannes unter dem Herzen trug.«
Er nickte langsam. »Ich habe dich damals geliebt und ich liebe dich heute. Ich liebe auch Livie, obwohl sie nicht zu mir gehört.«
Dorothea schüttelte den Kopf. »Aber sie gehört zu dir. Ich war wirklich noch einmal in Brightwell Court, nachdem ich das erste Kind verloren hatte. Aber ich war dir nie untreu. Ich habe es dir früher schon gesagt und werde es wiederholen, bis du mir glaubst. Sie ist deine Tochter. Deine .«
Er starrte immer noch mit ungläubiger Miene auf seine Frau. Ob er ihren Worten nicht glaubte oder ihre Anwesenheit nicht fassen konnte, hätte Olivia nicht sagen können.
»Warum bist du hier?«, fragte er atemlos. »Warum erzählst du mir das, nachdem du mich schon verlassen hast? Und nachdem du bereits frei von mir bist?«
Tränen glänzten in Dorotheas Augen. Ihr Flüstern wurde heiser. »Vielleicht möchte ich nicht frei sein.«
Hoffnung flackerte in seinen Augen auf und erlosch wieder. »Nun, du wirst frei sein und das schon bald. Ich soll aufgehängt oder deportiert werden. Davon kommt ein Mann nicht gesund und munter zurück, wenn überhaupt. Trotzdem bin ich froh, dass du gekommen bist. Ich habe Gott gebeten, euch beide noch einmal sehen zu dürfen. Und er hat mein Gebet erhört.«
»Hast du überhaupt ein Wort von dem gehört, was ich dir gesagt habe, Vater?«, rief Olivia. »Du bist entlastet.«
Er wiegte verwundert den Kopf hin und her, ein seltenes Funkeln in den Augen. »Du hast es herausgefunden, was weder der Verwalter noch ich entdecken konnten, ja? Du hast den Jungen von Harrow am Ende doch noch geschlagen.«
Sie nickte.
»Das ist mein Mädchen. Mein kluges Mädchen.«
Olivias Kehle war wie zugeschnürt und ihr wurde warm ums Herz, ihn diese lang vermissten Worte wieder sagen zu hören. Sie griff über den Tisch und drückte ihm die Guinee in die Hand, genau wie Herbert es bei ihr gemacht hatte. »Er hat das hier zurückgegeben.«
Er legte die Münze in ihre Hand zurück und drückte einen kurzen Moment ihre Finger.
»Du bist frei und kannst gehen, Vater«, flüsterte sie. »Wir sind alle frei.«
Endlich verstand Olivia, was Mr Tugwell ihr zu sagen versucht hatte. So war es für jedes gefallene Geschöpf. Christus trug die Strafe, die jeder von uns verdient hat, um unsere Freiheit zu erkaufen.
Simon Keene schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht begreifen. Wohin soll ich gehen, wenn ich frei bin?«
Olivia warf
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