Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
wartete mit Olivias Mutter in der Kutsche, als Mr Smith Olivia zum Aussteigen die Hand reichte. Der Wachtmeister führte sie durch das Gerichtsgebäude und in den kleinen Besucherraum neben dem Haus des Aufsehers. Dann verschwand er und nahm die Anweisung des Friedensrichters mit.
Wenige Minuten später öffnete ein Wärter die Tür und Simon Keene schlurfte in den Raum, den Kopf gesenkt, die Hände vor sich gefaltet, als trage er Handschellen, obwohl dies nicht der Fall war.
Ihr Vater schaute hoch und zuckte zusammen. Offensichtlich hatte ihm niemand gesagt, wer ihn sprechen wollte und weshalb.
»Livie! Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehen würde!«
Ihr Herz war so voll bei seinem Anblick, dass sie einen Moment lang nicht sprechen konnte. Als sie nicht antwortete, verschwand sein hoffnungsvoller Ausdruck.
»Bist du gekommen, um dich von mir zu verabschieden?«, fragte er gleichgültig. »Oder willst du mich wieder beschimpfen?«
»Nichts von alledem.« Sie setzte sich an den Tisch und deutete auf den zweiten Stuhl ihr gegenüber.
Er ließ sich darauf fallen. »Sicher hast du gehört, dass ich erledigt bin. Auf mich wartet die Schlinge. Oder die Deportation. Beide sind tödlich.«
»Nein. Du wirst freigelassen. Hat man dir das nicht gesagt?«
Er runzelte die Stirn. »Träumst du, Mädchen? Willst du bei mir Hoffnung wecken und sie dann zerschlagen, so wie ich dich immer wieder enttäuscht habe?«
»Du bist unschuldig.«
»Ha! Ich hab keinen Viertelpenny unterschlagen, aber ich habe viel größere Schuld auf mich geladen. Darum ist es mir egal, was sie jetzt mit mir machen. Ich habe mich mit meinem Schöpfer versöhnt. Ich wünschte, ich hätte deiner Mutter sagen können, wie leid es mir tut. Sie um Verzeihung bitten können – dich auch. Wenn ihr mir vergeben würdet, würde ich ganz getrost sterben.«
»Ich vergebe dir«, antwortete Olivia. »Und ich hoffe, dass du mir auch vergibst.«
»Ich dir vergeben? Was denn?«
»Dass ich so schlecht von dir gedacht habe.«
Er schaute weg. »Ich habe dir ausreichend Grund dazu gegeben.«
»Vielleicht«, räumte sie ein. Später würde sie ihm gestehen, was sie ihm unterstellt hatte. Aber nicht jetzt, nicht hier. Er sah wirklich schlecht aus, aber in seinen Augen bemerkte sie ein seltsames neues Leuchten. Auf seinem Gesichtsausdruck lag ein Friede, den er früher nicht besessen hatte. »Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich habe mir Sir Fulkes Bücher angeschaut –«
»Tatsächlich?«, unterbrach er sie und zog die Brauen in die Höhe. »Und wie hast du das zustande gebracht?«
»Lord Brightwell und sein Sohn sind mit Sir Fulke bekannt, und –«
»Schon wieder Brightwell. Ich hätte es mir denken können. Hat er dich als eigenes Kind angenommen?«
»Nein. Was ich sagen will, ist, dass sie Sir Fulkes Sohn und seinen Anwalt überreden konnten, mir eine Stunde mit den Abrechnungsbüchern zu gewähren. Weißt du, was ich herausgefunden habe?«
Er schüttelte abwesend den Kopf. Seine Augen wanderten über ihr Gesicht, als wolle er sich jeden Zug genau einprägen.
»Das Geld war über einen Zeitraum von nur wenigen Monaten entwendet worden, vor über einem Jahr. Es war als Handkasse kategorisiert worden, jedoch wurden hohe Beträge abgezogen, die zusammen addiert eine runde Summe ergaben. Das war nicht das Werk eines erfahrenen Buchhalters wie du es bist, selbst wenn du damals schon für Sir Fulke gearbeitet hättest, was nicht der Fall war. Du bist viel zu schlau für so einen Pfusch.«
»Wer war es dann? Nicht der Verwalter, hoffe ich. Er schien mir ein anständiger Mann zu sein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es war Herbert Fitzpatrick, Sir Fulkes eigener Sohn. Und aus gutem Grund, wie ich erfahren habe. Erinnerst du dich an ihn? Er war der Junge aus Harrow, der diesen Wettbewerb in der Krone und Krähe gewonnen hat?«
»Gewonnen hat?« Er schnaubte. »Du hast ihn gewinnen lassen, so war das.«
Sie beugte sich über den Tisch und schaute ihm in die Augen. »Du hast recht, so war es. Wirst du mir das nie verzeihen?« Tränen verzerrten ihren Blick und sie fühlte sich, als wäre sie wieder zwölf Jahre alt.
Tränen füllten auch seine niedergeschlagenen braunen Augen, und es tat ihr im Herzen weh, das zu sehen. »Ich soll dir verzeihen? Wenn ich derjenige war, der dich so schlecht behandelt hat? Du hast mir niemals etwas angetan – na ja, wenn man diesen einen Wettstreit nicht rechnet …« Er versuchte zu grinsen, was nur
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