Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
schaffte Olivia es, den Mund zu halten. Sie versuchte, sich aus seiner Umarmung zu lösen, doch der Stallknecht war kräftig. Würde Lord Bradley einfach nur dastehen? War er denn kein Gentleman?
Sie dachte: Ich darf kein Wort sagen, was? Ich bin aber drauf und dran, es zu tun! Olivia wand sich in Johnnys Armen und öffnete ihren Mund, um sich sehr deutlich über das schlechte Benehmen beider Männer zu äußern.
Ein Schuss zerriss die Luft. Johnny sprang auf die Füße, wodurch Olivia von der Bank rutschte und zu Boden fiel. Sein Gesicht verlor alle Farbe, als er sich ruckartig umdrehte und Lord Bradley nur wenige Meter entfernt stehen sah, das Gewehr in der Hand.
Mit finsterem Gesicht schritt Lord Bradley zielbewusst auf sie zu. »Zurück zum Stall, Ross«, befahl er, während er sich über Olivia beugte und eine Hand ausstreckte, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie ignorierte es und kämpfte sich allein auf die Füße. Ihre Wangen brannten vor Empörung.
Johnny blieb kurz stehen und murmelte ein schwaches: »Tut mir leid, Miss« in ihre Richtung, ohne ihrem Blick zu begegnen. Dann beeilte er sich, den Pfad entlangzulaufen und aus ihrem Blickfeld zu verschwinden.
Sobald er außer Hörweite war, zischte Olivia: »Das hätten Sie nicht tun müssen. Ich wäre auch allein mit ihm fertig geworden.«
»Es sah nicht danach aus.«
»Vielleicht hat Ihr Eindruck Sie getäuscht. Vielleicht tut es mir leid, dass Sie uns gestört haben.« Sie sah, wie er zauderte und die Kiefer fest zusammenbiss.
Er antwortete in kaltem Ton: »Dann müssen Sie mein Verhalten entschuldigen. Wenn Sie und Ihr Liebhaber privat zusammenkommen möchten, dann empfehle ich Ihnen, sich einen weniger öffentlichen Treffpunkt zu suchen. Wenn Hodges Zeuge dieser kleinen Szene geworden wäre, würde Ross in diesem Moment seine Sachen packen. In der Zwischenzeit sollten Sie zum Haus zurückkehren. Es ist nicht sicher für Sie, allein im Wald draußen zu sein.«
»Ich bin vollkommen in Sicherheit.«
»In der Nähe von Barnsley sind Wildhunde gesehen worden, Miss Keene. Niemand kann garantieren, dass sie nicht auch hier auftauchen.«
»Sie wollen mir nur Angst einjagen.«
»Sie sollten tatsächlich Angst haben. Sie haben dieses Mal Ihren Stock nicht dabei.«
Sie starrte ihn an, verblüfft über diese Anspielung auf ihre erste Begegnung. Er hatte sie also doch von der Jagd erkannt. Gut. Vielleicht würde er sich auch erinnern, wie grob er und seine Freunde sie behandelt hatten.
»Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen«, gab sie kühl zurück. »Aber ich bin sicher, Sie haben Wichtigeres zu tun, als mich zu beschützen.«
»Da haben Sie recht. Deshalb – ich wiederhole mich – sollten Sie zum Haus zurückkehren. Auf der Stelle.«
»Mein Spaziergang ist noch nicht zu Ende.«
»Dann spazieren Sie nach Herzenslust in Sichtweite des Hauses.«
»Ich werde dort spazieren, wo es mir gefällt.«
»Sie vergessen, wer Sie sind.«
»Und Sie vergessen Ihr Versprechen, dass ich meinen Halbtag so verbringen darf, wie ich es möchte. Und Ihre Pflicht als Gentleman, mich wie ein menschliches Wesen zu behandeln.«
»Obzwar ein Eindringling.«
»Sie werden mir nie erlauben, meinen Fehler zu vergessen, nicht wahr? Vergeben und vergessen gibt es nicht in Ihrem Wortschatz. Ich habe mich mancherlei Dinge schuldig gemacht, aber ich sage Ihnen ein für alle Mal: Ich bin weder eine Spionin noch eine Diebin. Törichterweise habe ich Ihr Land unerlaubt betreten, ja, aber lieber bin ich ein Eindringling als eine arrogante, gefühllose und unhöfliche Person wie Sie!«
Sie kehrte ihm den Rücken zu, um nicht zuzulassen, dass er ihre Tränen sah.
»Miss Keene!«, wies er sie zurecht.
Sie spürte seinen bohrenden Blick im Rücken, weigerte sich jedoch, sich umzudrehen.
Er hob die Stimme. »Miss Keene!«
Sie blickte ihn über die Schulter an. »Ich bin nicht taub, Sir«, schnaubte sie. »Nur stumm.« Und damit hob sie ihre Röcke und rannte den Pfad hinunter, tiefer in den Wald hinein, wobei sie ihr Schluchzen unterdrückte.
Edward sah ihr nach und bemerkte mit einem prickelnden Gefühl der Kälte, dass sie ihn zum ersten Mal nicht mit seinem Ehrentitel angesprochen hatte.
Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf die Bank und vergrub das Gesicht in beiden Händen. Ihre Worte hallten in seinem Kopf wider und sein Inneres brannte.
In einem Punkt hat sie unrecht , dachte er. Ich bin nicht gefühllos. Ich fühle. Ich fühle sehr viel.
Als Edward sie mit Ross
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