Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Gesicht in die Sonne, die Augen geschlossen, ihr ovales Gesicht eingerahmt von dunklen Locken. Sie war nicht so elegant wie Miss Harrington oder Judith, allerdings fehlten ihr im Gegensatz zu ihnen sowohl Schminksachen als auch edle Kleider und eine Zofe. Trotzdem war Miss Keene schön und besaß – wie Judith mehrmals angedeutet hatte – eine stille Würde, eine damenhafte Anmut. Edward fragte sich erneut, welcher Art das Interesse seines Vaters an dieser Frau war.
Olivia streckte ihre Beine vor sich aus und Edward erhaschte einen kurzen Blick auf einen Strumpf und einen wohlgeformten Knöchel. Er wandte die Augen ab. Es war nicht seine Art, einen heimlichen Blick auf das Bein einer Frau zu werfen. Dies sagte er sich selbst, einmal und ein weiteres Mal.
Schnee begann in dicken Flocken zu fallen. Sie tanzten und schwebten durch die Luft wie Blüten eines Vogelkirschbaums. Er richtete den Blick wieder auf Miss Keene. Sie öffnete den Mund und streckte ihre rosa Zunge aus, um wie ein kleines Mädchen Schneeflocken zu fangen. Er ertappte sich dabei, wie er lächelte. Am liebsten hätte er platschend den flachen Fluss durchquert, um bei ihr zu sein. Er hätte gern ein Lächeln und noch so vieles mehr mit ihr geteilt. Doch zwischen ihnen standen ganz andere Hindernisse als der eiskalte Fluss. Ich bin ein Narr , tadelte er sich selbst. Es wäre ihr zutiefst unangenehm, wenn sie mich sehen würde und wüsste, dass ich sie beobachtet habe.
Er blieb, wo er war, und rief sich in Erinnerung, dass sein Vater die feste Absicht hatte, alles wie bisher weiterzuführen. Er wäre der nächste Earl von Brightwell und würde seinem Stand entsprechend heiraten.
Miss Keene blieb noch einen Moment sitzen, dann erhob sie sich vom Baumstamm. Sie wandte sich vom Fluss ab und streifte sich mit behandschuhten Händen den Schnee von der Hinterseite. Edward beschloss, sich ebenfalls auf den Heimweg zu machen. Vielleicht würde er sie ja an der Brücke von Brightwell einholen.
Olivia war überrascht, Johnny Ross auf der hölzernen Bank am obersten Punkt der Anhöhe sitzen zu sehen. Sie öffnete den Mund, um ihn zu ermahnen, erinnerte sich jedoch im letzten Moment, dass sie eine Stumme spielte, und presste schnell die Lippen aufeinander.
Er hob den Kopf, stand auf und kam den Pfad heruntergestürmt. »Ich hab Sie überrascht, nicht wahr?« Er lachte und legte seine Hände unter ihre Ellbogen. »Ich hoffe schon seit Tagen, Sie mal allein zu erwischen.«
Olivia schüttelte den Kopf, schob sanft seine Hände weg und stapfte weiter den schneebedeckten Hügel hinauf. Sie waren so dicht am Herrenhaus. Wenn jemand sie hier draußen zusammen sah, würde man annehmen, sie und Johnny wären … Und wenn Lord Bradley sie sah, würde Johnny seine Stellung verlieren.
»Ach, kommen Sie schon«, bedrängte er sie und verfiel in leichten Trab, um sie einzuholen. »Setzen Sie sich wenigstens eine Weile lang mit mir auf die Bank. Ich hab den Schnee abgewischt.«
Er fasste sie am Arm und zog sie neben sich auf die Bank. Sie rutschte an den Rand und atmete tief durch. Sie wollte seine Gefühle nicht verletzen, ihn jedoch auch nicht ermutigen.
»Livie, Sie wissen doch, dass ich verrückt nach Ihnen bin, nicht wahr? Wollen Sie mir kein Zeichen Ihrer Zuneigung geben?«
Ach, wie frustrierend das war! Wie konnte sie ihm ihre Gefühle erklären, ohne zu sprechen? Einfach nur den Kopf zu schütteln, erschien ihr so unzureichend.
Johnny nahm ihr Zögern zum Anlass, sie durch Taten zu überzeugen. Er fasste sie ungeschickt an den Schultern und beugte sich vor, um sie zu küssen.
Als Olivia das Gesicht abwandte, erhaschte sie einen Blick auf Lord Bradley, der auf dem Pfad stand, und das sofortige Gefühl der Beschämung verwandelte sich in Irritation, als sie seine arrogante Haltung bemerkte. Einen Moment lang war sie versucht, den Kopf zu drehen und Johnny zu küssen, damit der hochmütige Herr sah, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern ließ. Aber sie wusste, dass es unfair wäre, Johnny auf diese Weise zu benutzen. Sekundenlang hielt sie Lord Bradleys kaltem Blick über Johnnys Schulter hinweg stand. Sie wollte nicht als Erste die Augen senken. Sie hatte nichts getan, dessen sie sich schämen müsste.
Johnny zog sie dichter an sich und murmelte: »Komm schon, Livie, nur ein Kuss. Du musst kein Wort sagen …« Sein vom Rasieren stoppliges Kinn streifte ihre Wange, als er sein Gesicht näher an sie heranschob.
Mit dem letzten Rest Selbstbeherrschung
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