Das Schweigen der Miss Keene (German Edition)
Vater. Wäre es jetzt … unpassend?«
»Tatsächlich war ich gerade dabei, meine Unterhaltung mit Olivia zu genießen.«
Olivia …? Es gefiel ihm nicht, ihren Namen von den Lippen seines Vaters zu hören.
Lord Brightwell seufzte und richtete sich auf. »Aber wenn es nicht warten kann …«
»Ich sollte ohnehin zum Kinderzimmer zurückkehren, Mylord«, erklärte Olivia und stand auf.
»Aber –« Der Earl wollte widersprechen, doch als er ihren Gesichtsausdruck sah, verstummte er. »In Ordnung, Olivia, äh, Miss Keene.«
Das vielsagende Lächeln, das die beiden einander zuwarfen, erfüllte Edward mit Bitterkeit. Sicher hatte sein Vater kein unschickliches Interesse an diesem Mädchen. Es stimmte, Herren verführten Dienstmädchen seit Jahrhunderten, aber er hielt seinen Vater nicht für einen solchen Mann. Er dachte an seine kürzliche Unterredung mit Mrs Hinkley über eins der Dienstmädchen zurück und erneut stieg Wut in ihm auf. Es gab noch ein weiteres Gefühl, das ihn durchströmte, aber er machte sich nicht die Mühe, sich näher damit zu befassen.
19
Ohne den Schutz ihrer eigenen Familie war die Gouvernante sexuellen Annäherungen ausgesetzt.
Kathryn Hughes, The Victorian Governess
An ihrem nächsten Halbtag spazierte Olivia über den frischen Schnee auf dem Waldweg. Es war nicht genug Schnee gefallen, damit die Kinder damit spielen konnten, sondern es lagen nur eine pulvrige Schicht auf dem Boden und ein dicker weißer Belag auf Ästen, Büschen und Beeren. Grasbüschel und rote und gelbe Blätter schauten unter der weißen Glasur hervor. Sie erinnerten Olivia an einen mit Zuckerguss überzogenen Kuchen aus getrockneten Früchten und Nüssen.
Olivia folgte dem Waldweg weiter – in die entgegengesetzte Richtung von Croomes Hütte. Angezogen vom plätschernden Flüstern fließenden Wassers verließ sie dann den Pfad und ging dem Geräusch nach. Sie sah zwei Wasseramseln am Flussufer, die ihre Köpfe in typischer Weise auf und ab bewegten und ins Wasser tauchten. Eine Waldschnepfe, aufgestört durch ihr Erscheinen, durchpflügte die Luft mit hektischen Flügelschlägen und schwirrte davon.
Olivia wischte den Schnee von einem umgefallenen Baumstamm in der Nähe des Flussufers und setzte sich. Wie friedlich es war. Sie legte den Kopf in den Nacken und genoss die ungewöhnlich warme Sonne, die den Schnee leider bald zum Schmelzen bringen würde.
Während sie dort saß, wurde Olivia bewusst, dass sie das Ende ihrer dreimonatigen Probezeit erreicht hatte. Lord Bradley würde ihr jetzt erlauben zu gehen, hatte sein Vater gesagt. Der Gedanke, diesen Ort zu verlassen, brachte jedoch keine Erleichterung, sondern eher Unsicherheit mit sich. Allmächtiger Gott, zeig mir, was ich tun soll … Sie hätte gern nachgeforscht, wo ihre Mutter war und wie es ihr ging, doch Dorothea Keene hatte Olivia angefleht, nicht zurückzukommen – hatte darauf bestanden, dass sie nach ihr suchen würde, sobald es sicher war. Aber warum war sie nie aufgetaucht? War ihr etwas zugestoßen oder hatte sie sich fern gehalten, um den Wachtmeister – oder Simon Keene – nicht auf Olivias Spur zu bringen?
Ein weiterer Gedanke überfiel sie. Würde Lord Bradley ihr überhaupt erlauben, länger zu bleiben? Plötzlich hoffte sie sehr darauf. Zumindest hätte sie dann einen Ort, an dem sie leben könnte, während sie wartete, oder bis sie eine andere Anstellung finden würde.
Edward marschierte durch den Wald, sein Gewehr locker in der Hand. Er hatte den Wald weitläufig auf der Suche nach Wildhunden und Wilderern durchstreift und kehrte jetzt zurück, um an seinem Lieblingsplatz am Fluss eine Pause einzulegen. Als er den Kopf in den Nacken legte und durch das kahle Geäst blickte, entdeckte er weit oben am Himmel eine einsame Gans. Er fragte sich, wie das Tier von seinem Schwarm getrennt worden war. Wo wollte es hin? Würde es seinen Weg finden? Umgeben von Schnee und Stille löste der Anblick des Vogels ein schmerzhaftes Gefühl der Einsamkeit bei Edward aus.
Er spürte eine Bewegung in der Nähe. Seine Muskeln spannten sich an und er richtete seine Konzentration wieder auf den Wald. Laub knisterte und eine Waldschnepfe flatterte auf, wobei sie Schnee verstreute. Sicher gab es so dicht am Haus keine Wildhunde.
Dann trat Miss Keene am gegenüber liegenden Ufer in sein Blickfeld. Sie summte leise vor sich hin und setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm in der Nähe des Flusses. Eine Weile lang hielt sie einfach nur ihr
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