Das Schweigen der Schwaene
während sie hinter der Badezimmertür verschwand.
Das gute Benehmen hatte man ihr offenbar genau wie Loyalität und Sanft mut bereits während der Kindheit beigebracht. Sie war eine nette Frau, und das Wichtigste in ihrem Leben war dieses süße Kind. Die Liste, die er gesehen hatte, schien wieder mal eine Niete gewesen zu sein.
Das Mädchen war nirgends zu sehen. Egal, er ginge einfach in den Ballsaal zurück und schickte eine der Bediensteten von unten herauf.
Er ging eilig den Korridor entlang und wandte sich der Treppe zu.
Schüsse.
Sie kamen aus dem Ballsaal herauf.
Himmel.
Er stürzte die Treppe hinab.
Explosionen.
Das Feuerwerk, dachte Nell. Sally hatte ihr erzählt, daß es als Krönung des Abends ein Feuerwerk gab. Offenbar hatte sie länger als beabsichtigt bei ihrer Tochter verweilt. Sally wäre darüber bestimmt nicht besonders erfreut.
Der Fleck war nicht allzu schlimm. Gott sei Dank, daß es Mineralwasser gab. Sie hatte schon Angst gehabt, sich umziehen zu müssen. Vorsichtig tupfte sie an der Schokolade herum.
Irgendjemand schloß die Wohnzimmertür.
Das Mädchen. Wie hieß sie noch? Hera. »Ich bin noch im Bad, aber ich werde gleic h gehen, Hera. Ich habe mir mein Kleid...«
Sie blickte auf.
Ein Gesicht im Spiegel, blaß, schimmernd, verzerrt.
»Was...«
Blitzender Stahl, ein sich hebender Arm.
Ein Messer.
Sie fuhr herum, als das Messer auf sie niederging.
Schmerz.
Das Messer wurde aus ihrer Schulter gezogen und stach abermals zu.
Ein Dieb. »Kein - Schmuck. Bitte.«
Abermals traf sie der Dolch, dieses Mal in den Oberarm. Durch die Strumpfmaske hindurch sah sie, wie der Angreifer die Zähne fletschte. Kein Dieb. Es machte ihm Spaß. Entsetzen wallte in ihr auf. Er spielte mit ihr. Er genoß ihren Schmerz und ihre Hilflosigkeit.
Das Blut strömte über ihren Arm, und vor lauter Schmerz wurde ihr schlecht.
Warum tat er das?
Er brachte sie um.
Jill.
Jill war im Zimmer nebenan. Wenn sie starb, gäbe es niemanden mehr, der ihn davon abhielte, ihr weh zu tun. Erneut riß er das Messer hoch. Sie rammte ihm das Knie in den Unterleib. Er stöhnte vor Schmerz und krümmte sich.
Sie schob sich an ihm vorbei. Sein Körper fühlte sich fremd und gummiartig an. Sie stolperte ins Wohnzimmer. Ihre Knie zitterten. Gleich fiele sie hin.
»Hexe.« Er war direkt hinter ihr.
Sie brauchte eine Waffe. Keine Waffe im Raum.
Sie riß an der Schnur der Lampe auf dem Tisch neben ihr. Sie warf mit der Lampe nach ihm.
Er wehrte sie problemlos ab. Er kam immer näher an sie heran.
Sie wich vor ihm zurück. Hieß es nicht immer, Schreien wäre die beste Verteidigung?
Sie schrie.
»Weiter. Niemand wird dich hören.« Er hatte recht. Das Feuerwerk und die Schreie von unten waren zu laut.
Sie stand neben der Flügeltür zum Balkon. Sie riß die beigefarbenen Seidenvorhänge ab und warf sie ihm über den Kopf. Sie hörte ihn fluchen und stürzte an ihm vorbei.
Fast an ihm vorbei.
Er befreite sich gerade rechtzeitig, um ihren Arm zu packen und daran zu ziehen, bis sie in die Knie ging. Wieder hob er das Messer an.
Sie fuhr auf und rammte ihm den Kopf in den Bauch.
Sein Griff lockerte sich, und sie riß sich los.
»Mama.«
O Gott, Jill stand an der Schlafzimmertür.
»Bleib, wo du bist, Baby.«
Der Balkon. Wenn sie ihn auf den Balkon locken könnte, gelänge Jill vielleicht die Flucht.
Ihre Faust fuhr nach vorn und traf sein Gesicht. Sie wirbelte herum und rannte auf den Balkon.
Er folgte ihr.
»Lauf, Jill. Geh zu Daddy.«
Jill weinte. Sie wollte sie trösten. »Lauf, Ba...« Das Messer. Der Stich. Der Schmerz.
Kämpf gegen ihn.
Ich bin zu schwach.
Schlag nach ihm. Tu ihm weh.
Gib Jill Zeit zur Flucht.
Lauf weg.
Wohin?
Steinhart und kalt spürte sie die Balustrade in ihrem Kreuz.
Sorg dafür, daß er abstürzt. Sorg dafür, daß er über das Geländer fällt. Sie zerrte verzweifelt an seinen Schultern, um ihn umzudrehen.
»O nein, du dumme Ziege.« Er riss sich von ihr los und schob sie über die Brüstung hinaus.
Sie schrie.
Fiel.
Starb.
Nicholas kämpfte sich zwischen den panisch aus dem Ballsaal flüchtenden Gästen hindurch und packte die an ihm
vorbeirennende Sally Brenden am Arm. »Was ist passiert? «
»Lassen Sie mich los.« In ihren Augen blitzte nacktes Entsetzen auf. »Wahnsinn. Sie haben sie umgebracht. Wahnsinn.«
Seine Hand legte sich fester um ihren Arm. »Wer hat geschossen? «
»Woher soll ich das wissen? « Sie fuhr zu einem untersetzten Mann herum, der
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