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Das Schweigen der Schwaene

Das Schweigen der Schwaene

Titel: Das Schweigen der Schwaene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Johansen
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rehäugige Elfe, die sie im Augenblick mit französischem Gebäck verwöhnte und der offenbar all ihre Liebe galt.
    Wenn es hier eine Zielperson gab, dann wahrscheinlich Kavinski selbst. Als Oberhaupt eines neuen russischen Staats hatte er die Macht, für Gardeaux entweder eine ergiebige Milchkuh oder ein großes Ärgernis zu sein. Nell Calder hingegen war gewiß niemandem ein Ärgernis. Er hatte die Antworten auf alle Fragen, die er ihr gestellt hatte, bereits gekannt, aber ihre Reaktion hatte ihn interessiert. Er hatte sie den ganzen Abend beobachtet, und eins war klar: sie war eine nette, schüchterne Frau, die selbst inmitten dieser relativ harmlosen Haie unten im Ballsaal vollkommen deplaziert und hilflos war. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie genug Einfluß hatte, um einen Bestechungsversuch wert zu sein, und nie im Leben wäre sie die ebenbürtige Geschäftspartnerin eines Schurken wie Gardeaux.
    Es sei denn, sie war mehr, als sie erkennen ließ. Vielleicht. Sie wirkte sanft wie ein Lamm, aber sie hatte den Mut gehabt, ihn aus dem Zimmer ihrer Tochter zu werfen.
    Irgendwann wehrte sich jeder Mensch, der Kampf mußte nur wichtig genug sein. Und für Nell Calder war es wichtig, mit ihrer Tochter allein zu sein.
    Nein, die Bedeutung der Liste mußte eine andere sein. Wenn er wieder hinunterginge, hielte er sich besser in Kavinskis Nähe auf.
    »Auf, auf, auf, in den blauen Himmel hinauf
    Ab, ab, ab, zu der roten Rose hinab.«
    Durch die halboffene Tür drang Nells Stimme an sein Ohr. Er hatte Schlaflieder schon immer gemocht, denn sie hatten eine beruhigende Beständigkeit, die es in seinem Leben nicht gab.
    Seit den Anfängen der Menschheit hatten Mütter für ihre Kinder gesungen, und sie sängen wahrscheinlich noch in tausend Jahren für sie.
    Das Lied endete in leisem Gelächter und in gemurmelten Worten, die er nicht verstand, und ein paar Minuten später kam sie aus dem Schlafzimmer und schloß hinter sich die Tür. Ihr Gesicht war gerötet, und sie strahlte eine Weichheit wie geschmolzene Butter aus.
    »Das Schlaflied habe ich vorher noch nie gehört«, sagte er.
    Sie sah ihn verblüfft an, als hätte sie ganz vergessen, daß er immer noch in ihrem Wohnzimmer saß. »Es ist sehr alt. Meine Großmutter hat es mir immer vorgesungen, als ich selbst noch ein kleines Mädchen war.«
    »Schläft Ihre Tochter? «
    »Nein, aber bald. Ich habe ihr noch einmal die Spieluhr aufgezogen, und normalerweise schläft sie über der Musik immer ein.«
    »Sie ist ein wunderschönes Kind.«
    »Ja.« Ein glückliches Lächeln verlieh ihrem eher schlichten Gesicht einen strahlenden Glanz. »Allerdings.«
    Fasziniert starrte er sie an und stellte fest, daß er sich wünschte, sie behielte dieses Lächeln bei. »Und intelligent? «
    »Manchmal zu intelligent. Ab und zu geht ihre Phantasie mit ihr durch. Aber sie ist immer vernünftig, und man kann mit ihr...«
    Sie brach ab, und ihr Eifer legte sich. »Aber das interessiert Sie sicher nicht. Ich habe das Tablett vergessen. Warten Sie, ich hole es.«
    »Machen Sie sich keine Mühe. Sie würden nur Jill stören.
    Geben Sie das Tablett einfach morgen früh dem Mädchen mit.«
    Sie sah ihn ruhig an. »Das habe ich Ihnen vorhin schon gesagt.«
    Er lächelte. »Vorhin wollte ich nicht auf Sie hören, aber jetzt leuchtet mir Ihr Argument durchaus ein.«
    »Weil es Ihnen passt.«
    »Genau.«
    »Ich muss auch wieder gehen. Ich habe Kavinski noch gar nicht kennen gelernt.« Sie wandte sich zur Tür.
    »Warten Sie. Ich denke, Sie entfernen lieber erst den Schokoladenfleck von Ihrem Kleid.«
    »Verdammt.« Mit gerunzelter Stirn blickte sie an sich herab.
    »Den hatte ich ganz vergessen.« Sie ging in Richtung des Badezimmers. »Gehen Sie nur. Ich versichere Ihnen, daß ich dieses Problem auch ohne Ihre Hilfe lösen kann.«
    Als er zögerte, warf sie ihm einen spitzen Blick über die Schulter zu.
    Er hatte keine Entschuldigung mehr, um länger zu bleiben, obgleich diese geringfügige Tatsache nicht weiter von Bedeutung war.
    Aber er hatte auch keinen Grund. Er schlug sich schon allzulange durchs Leben, indem er sich auf seinen Geist und seine Intuition verließ. Auch jetzt vertraute er seinem Instinkt, der ihm sagte, daß diese Frau keine wie auch immer geartete Zielperson war. Es wäre besser, er lenkte seine Aufmerksamkeit auf Kavinski um.
    Er wandte sich zum Gehen. »Ich werde dem Mädchen sagen, daß es zurückkommen soll.«
    »Danke, sehr freundlich«, sagte sie automatisch,

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