Das Schweigen der Schwaene
Virginia, und er konnte das College nur besuchen, weil ihm ein Stipendium bewilligt worden war. Warum hätte ich unser beider Leben kaputtmache n sollen? Sobald ich merkte, daß ich schwanger war, ging ich zu meinen Eltern zurück.«
»Eine Abtreibung wäre bestimmt einfacher gewesen.«
»Ich wollte nicht. Ich wollte das College zu Ende machen und arbeiten gehen.« Verbittert fügte sie hinzu: »Aber meine Eltern sahen das anders als ich. Eine ledige Mutter war eine Peinlichkeit, mit der sie nicht leben konnten.«
»In unserer Zeit? «
»Oh, sie haben sich immer eingebildet, Freidenker zu sein. Aber das wichtigste für sie war, daß immer alles nach Plan verlief.
Kinder brauchten eine geordnete Familienstruktur. Das Leben mußte immer zivilisiert und wohlgeordnet verlaufen, und ich hatte mich nicht ordnungsgemäß verhalten, indem ich schwanger zu ihnen gekommen war. Ich hätte entweder eine Abtreibung machen lassen sollen oder aber den Vater meines Babys heiraten.«
»Aber Jill kam erst im Jahr nach Ihrer Rückkehr nach Greenbriar auf die Welt.«
»Sieben Monate. Wie gesagt, meine Eltern haben meinen
Fehltritt geschickt kaschiert. Zwei Monate nach meiner Rückkehr vom College habe ich Richard geheiratet. Er war der Assistent meines Vaters, und er wußte, daß ich schwanger war.«
Sie lächelte ohne jeden Humor. »Es blieb nicht aus, daß er es erfuhr. Ich habe ein Riesentheater veranstaltet, und meine Eltern waren es nicht gewohnt, daß ich mich ihnen in irgendeiner Sache widersetze. Er hat dann den rettenden Vorschlag gemacht.
Ich könnte das Baby behalten, und er würde mich heiraten und ginge mit mir fort.«
»Und was hat er als Gegenleistung bekommen? «
»Nichts.« Sie begegnete seinem Blick. »Richard war nicht der berechnende Emporkömmling, als den Sie ihn offenbar sehen.
Ich war verzweifelt, und er bot mir seine Hilfe an. Für ihn kam nichts dabei heraus als das Kind eines anderen Mannes und eine Frau, die manchmal peinlich für ihn war. Ich hatte den passenden familiären Hintergrund, aber mein Temperament entsprach sicher nicht den Anforderungen, die man an die Frau eines leitenden Angestellten stellt.«
»An dem Abend, als ich Ihnen zum ersten Mal begegnet bin, haben Sie sich doch durcha us geschickt angestellt.«
»Unsinn«, widersprach sie ihm voller Ungeduld. »Selbst ein Blinder hätte gesehen, daß ich furchtbar schüchtern und in dieser Gesellschaft so gut aufgehoben wie Godzilla war. Tun Sie doch nicht so, als wüßten Sie das nicht mehr.«
Er lächelte. »Ich erinnere mich nur noch an eine sehr nette Frau.« Er machte eine Pause. »Und das faszinierendste Lächeln, das mir je vor die Augen gekommen ist.«
Sie sah ihn verwundert an.
»Zimmerservice.« Er wandte sich ab und ging zur Tür.
Der Zimmerservice kam in Gestalt einer Frau mittleren Alters lateinamerikanischer Abstammung, die mit einem Tablett hereinmarschiert kam, dieses auf den Tisch neben der Flügeltür stellte und lächelnd darauf wartete, daß Nell den Bestellzettel unterschrieb.
»Nicht allzu furchteinflößend«, stellte Nell trocken fest, nachdem die Frau wieder gegangen war.
»Das weiß man nie.« Nicholas ging zur Tür. »Schließen Sie ab, und machen Sie außer Jamie oder mir niemandem auf. Ich hole Sie um neun Uhr ab.«
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
Sein plötzlicher Abgang überraschte sie ebenso wie alles andere, was er an diesem Tag getan hatte.
»Schließen Sie ab«, sagte Nicholas durch die Tür.
Mit einer Spur von Verärgerung ging sie durch den Raum und schob den Riegel vor.
»Gut.«
Er war nicht mehr da. Sie hörte zwar nicht, daß er ging, aber ebensowenig spürte sie, daß er noch in der Nähe war. Um so besser, daß er sie endlich alleine ließ, sagte sie sich. Sie hatte nicht gewollt, daß er sie heute begleitete. Sie hatte sehen wollen, ob sie das Grauen alleine ertrug.
Und auf gar keinen Fall hatte sie vorgehabt, sich ihm anzuvertrauen. Hätte er ihr auch nur das geringste Mitleid entgegengebracht, hätte sie ihn sofort zurückgewiesen, doch stattdessen hatte er sich so unpersönlich und unverwüstlich wie ein Kissen gezeigt. Ein dynamischer Mann wie Nicholas sähe den Vergleich mit einem Kissen bestimmt nicht als
Kompliment, dachte sie. Ach, vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß das lange Schweigen über ihre Tochter endlich gebrochen war. Als die Worte aus ihr herausgebrochen waren, hatte sie das Gefühl gehabt, als träte sie aus der Dunkelheit in den Sonnenschein
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