Das Schweigen der Schwaene
sie zu schwanken begann.
»Verdammt, sie ist nicht hier«, sagte er mit zorniger Stimme.
»Sie ist in Ihrem Herzen und Ihrer Erinnerung. Das ist Ihre Jill.
Sie ist nicht hier.«
»Ich weiß.« Sie schluckte. »Sie können mich loslassen. Ich falle nicht um.«
Sie straffte die Schultern und ging ein paar Schritte, bis sie vor einem größeren, reicher verzierten Grabstein stand.
Richard Andrew Calder.
Geliebter Sohn von Edna Calder.
Keine Erwähnung von Nell oder Jill. Im Tod hatte Edna ihren Sohn zurückgefordert. Obwohl er für sie niemals wirklich verloren gewesen war. Er hatte niemals wirklich zu Nell gehört.
Auf Wiedersehen, Richard.
»Ganz schön viele Blumen«, stellte Nicholas fest.
Richards Grab war mit Bouquets aus allen nur erdenklichen Blumen überhäuft. Frischen Bouquets. Ihr Blick wanderte zu Jills Grab zurück. Nichts.
Zur Hölle mit dir, Edna.
Nicholas sah sie an. »Sie scheint keine besonders liebevolle Großmutter gewesen zu sein.«
»Sie war nicht ihre Großmutter.« Sie überließe dieser Hexe keinen Anspruch an Jill. »Jill war nicht Richards Tochter.«
Sie wandte sich ab und ging davon.
Auf Wiedersehen, Jill. Es tut mir leid, daß ich ihr diese Aufgabe überlassen mußte, Baby. Es tut mir alles leid. Himmel, es tut mir so leid...
»Ich will, daß sie jede Woche frische Blumen auf ihr Grab bekommt«, sagte sie vehement. »Viele Blumen. Werden Sie dafür sorgen, Tanek? «
»Ja.«
»Ich habe im Augenblick nicht viel Geld. Ich muß den Anwalt meiner Mutter kontaktieren und sehen, ob ich...«
»Seien Sie still«, sagte er rauh. »Ich habe ja gesagt.«
Seine Rauheit war tröstlicher als jede Höflichkeit. Tanek gegenüber mußte sie sich nicht verstellen. Sie bezweifelte, daß er sich überhaupt jemals von ihr täuschen ließ. »Ich will fort von hier. Gibt es heute abend noch einen Flug zurück? «
»Ich habe schon zwei Plätze bestellt.«
»Ich dachte, Sie hätten gesagt, wir fliegen erst morgen früh zurück? «
»Nicht, wenn es mir gelingen sollte, Sie früher von hier fortzubringen. Abschiede machen einen fertig. Deshalb verabschiede ich mich nicht mehr. Ich wußte, daß dieser Besuch ein Fehler war.«
»Sie irren sich. Ich mußte es tun.«
Langsam wich die Verärgerung aus seinem Gesicht.
»Vielleicht«, sagte er erschöpft und öffnete die Autotür. »Was weiß ich? «
Sie erreichten Minneapolis nach Mitternacht und wurden vor dem Flughafen abgeho lt.
»Jamie Reardon, Nell Calder«, sagte Nicholas. »Danke, daß du uns abholen konntest.«
»Es war mir ein Vergnügen.« Sein überraschter Blick haftete an Nells Gesicht. »Ah, Sie sind eine echte Schönheit, nicht wahr? «
Sein irischer Akzent war ebenso beruhige
nd wie sein
zerklüftetes Gesicht. Sie lächelte. »Keine echte Schönheit. Wohl eher Joel Liebers Kreation.«
»Trotzdem.« Er lief neben ihnen her. »Wenn Sie in meinen Pub kämen, würden die Jungs sicher zahllose Gedichte auf Sie verfassen.«
»Gedichte? Ich dachte, Poesie wäre eine verlorene Kunst.«
»Nicht für die Iren. Sie brauchen uns nur ein bißchen zu inspirieren, und schon kreieren wir Gedichte, die einem zu Herzen gehen.« An Nicholas gewandt sagte er: »Ich habe einen Anruf von unserem Mann in London erhalten. Vielleicht hat er was für uns. Er sagt, daß du dich bei ihm melden sollst.«
»Wird gemacht« Nicholas trat auf den Parkplatz hinaus. »Aber erst setzen wir Nell bei Joel Lieber ab.«
»Heute abend nicht mehr«, sagte Nell. »Es ist zu spät, und sie rechnen nicht vor morgen früh mit mir. Ich gehe in ein Hotel.«
Er nickte. »Wir besorgen Ihnen ein Zimmer in unserem Hotel.«
»Egal.« London. Wahrscheinlich sollte sie Tanek nach dem Tele fonanruf fragen. Nein, sie war zu erschöpft, und außerdem wäre er bestimmt sowieso zu keiner Auskunft bereit. Inzwischen hatte die Taubheit von ihr Besitz ergriffen, aber nun war es zu spät. »Ihr Hotel ist in Ordnung. Vielen Dank.« Jamie öffnete schwungvoll die Wagentür. »Sie sehen ein bißchen müde aus.
Aber keine Angst, in einer Stunde liegen Sie gemütlich in Ihrem Bett.«
»Ich bin wirklich müde.« Sie lächelte angestrengt. »Danke, daß Sie uns zu so später Stunde noch abgeholt haben, Mr. Reardon.«
»Jamie«, verbesserte er. »Kein Problem. Ich hole Nicholas ab, so oft es mir möglich ist. Er mag keine Taxis. Man weiß schließlich nie, wer hinter dem Steuer sitzt.«
Ein kalter Schauder rann Nells Rücken hinab. Wie mußte es sein, in einer Welt zu leben, in der
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