Das Schweigen der Toten
zu Tode gekommen war, vielleicht hatte sie selbst auch nur noch wenige Minuten zu leben.
Sie würde es bald herausfinden.
Geführt vom Strahl ihrer Taschenlampe, rannte sie auf das Werksgebäude zu. Vor der großen rechteckigen Öffnung auf der Südseite sah sie Martin Swans Pick-up stehen.
Kat zog ihre Glock. Mit ausgestreckten Armen hielt sie Taschenlampe und Pistole dicht übereinander. Sie zögerte, in das dunkle Gemäuer einzusteigen. Als könnte es sie verschlucken.
Im Wagen hatte sie Carl über Funk zu erreichen versucht, vergeblich. Sie nahm an, dass er mit den anderen Martins Haus durchsuchte. Jetzt hier auf eigene Faust zu handeln, war schlichtweg unverantwortlich. Sie brauchte Rückendeckung, wusste aber, dass jede Sekunde zählte. Sie konnte nicht länger warten.
Sie musste es riskieren.
Als sie das Gebäude betrat, hatte sie sofort den Geruch von Staub, Moder und Holz in der Nase. Es roch nach Kiefer, überall. Der Geruch stieg vom Boden auf, senkte sich von oben herab und schloss sie von allen Seiten ein.
So, dachte sie, muss es in diesen selbstgemachten Särgen gerochen haben.
Der Gedanke machte ihr Angst, genau wie die Dunkelheit, die sie umgab.
Sie schwenkte den Strahl der Taschenlampe hin und her und stellte fest, dass sie sich in einer Art Lagerhalle befand, die voller hoher Bretterstapel war, die langsam vor sich hin faulten und offenbar aus der Zeit stammten, als hier noch gearbeitet wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle entdeckte sie eine kleine Tür in der Wand, an der in abblätternder Farbe das Wort KONTOR stand.
Kat erreichte die Tür mit fünf langen Schritten und stieß sie auf.
Es war ein Büro, zumindest war es früher einmal als solches genutzt worden. In der Ecke stand ein verrosteter Metallschreibtisch. Ein Aktenschrank lag umgestoßen auf dem Boden. An der Wand hing ein verschimmelter Kalender, für den die Zeit im März 1990 stehengeblieben war.
Auf dem Schreibtisch sah Kat mehrere Einmachgläser stehen, jedes gefüllt mit Münzen. Von der Taschenlampe angestrahlt, schimmerten sie kupfern.
Pennys. Hunderte Pennys.
Vom Büro führte eine weitere Tür in einen kleinen Korridor, der übersät war mit Federn, gebrauchten Kondomen und Exkrementen. Kat stieg darüber hinweg und warf einen Blick in die drei angrenzenden Räume.
Der erste war leer und ebenso verdreckt wie der Korridor. In einer der Bodendielen steckte die Klinge einer Axt, deren aufgerichteter Schaft wie ein versteinerter Setzling aussah.
Kat trat mit dem Fuß dagegen und hebelte einen langen Holzsplitter aus dem Boden.
Sie rückte zum zweiten Raum vor und zielte mit Taschenlampe und Pistole in seine dunklen Winkel. Der Strahl fiel auf zwei Augen, die bedrohlich aufleuchteten. Kat hielt vor Schreck die Luft an.
Mitten im Raum stand ein Hirsch, der den Kopf mit einem gewaltigen Geweih hob und ihr entgegenstarrte. Als Kat einen Schritt zurückwich, stürmte das Tier wutschnaubend auf den Ausgang zu.
Kat sprang zur Seite und ging hinter einer anderen Tür in Deckung, als der Hirsch auf rutschenden Hufen in den Korridor sprengte und davonstob. Kat sah den weißen Spiegel im Kontor verschwinden, durch das sie soeben gekommen war.
Kat lehnte sich an die Wand der dritten Kammer und wartete, dass sich ihr Puls beruhigte. Auch hier lagerte Holz, aber es waren keine gestapelten Bretter, sondern bereits verarbeitete.
Verarbeitet zu Särgen.
Nicht weniger als ein Dutzend standen in Reih und Glied auf dem Boden, ein jeder mit passendem Deckel. Sie schienen im Unterschied zu den Särgen, in denen sie George und Troy gefunden hatte, unvernagelt zu sein.
Als sie sich wieder dem Ausgang zuwandte, stolperte sie über einen der Särge und riss im Sturz den Deckel mit sich, der ihr klappernd auf die Beine fiel. Kat rappelte sich auf und richtete den Strahl ihrer Lampe auf den nun offenen Sarg.
Es lag jemand darin.
Kat hielt die Luft an und kroch auf Knien bis an den Rand der Kiste.
Es war Lucas Hatcher. Seine Arme lagen überkreuz auf der Brust. Zwei Pennys verdeckten die Augen. Zwischen den Augenbrauen klaffte ein Loch.
Kat schaute genauer hin. Die Lippen waren nicht vernäht, und sie sah auch keinen Einschnitt am Hals. Diese Art der Behandlung war, so befürchtete sie, Henry vorbehalten.
Nick presste eine Hand auf den Mund, um nicht vor Schmerzen laut aufzuschreien, als er aus dem Bett stieg. Mit Hilfe der Metallstange, an der sein gebrochenes Bein gehangen hatte, schleppte er sich unter Qualen
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