Das Schweigen der Toten
Ende hatte sie zehn einzelne Buchstaben vor sich liegen, die, anders geordnet, einen Namen ergaben – ESTER DOMIT .
Ein Pseudonym. Sie hatten es geahnt, aber seine Bedeutung nicht erkannt.
Nick staunte. «Ein Anagramm?»
«Ja», sagte Kat. «Von Meister Tod.»
Sie war überzeugt, den Schlüssel gefunden zu haben, und es ärgerte sie, dass sie nicht schon früher dahintergekommen war.
«Ich weiß jetzt, wer der Killer ist», sagte sie.
Als Henry das nächste Mal zur Besinnung kam und seine Finger bewegte, stellte er fest, dass er nicht mehr von Holz umschlossen war, sondern auf einer weicheren Unterlage lag.
Jemand hatte ihn aus dem Sarg herausgeholt. Warum, war ihm ein Rätsel, wie alles andere auch. Sehenden Auges hätte er sich vielleicht Klarheit verschaffen können, aber er schaffte es nicht, die schweren Lider aufzuschlagen.
Wieder einmal war er auf seine anderen Sinne angewiesen und hoffte, erspüren zu können, wo er sich befand oder – wichtiger noch – was mit ihm passierte.
Fahrgeräusche waren nicht mehr zu hören. Nichts bewegte sich. Das Ziel schien erreicht zu sein.
Er nahm Schritte auf knarrenden Holzdielen wahr. Sie näherten sich von rechts.
Wenig später stand jemand neben ihm und atmete flach. Obwohl Henry nichts sehen konnte, hatte er das Gefühl, gemustert zu werden. Er kam sich ausgeliefert vor.
Henry versuchte, etwas zu sagen, bekam aber kein Wort über die Lippen. Sein Mund war verschlossen, wie die Augen, seine Zunge wie ein Fisch auf dem Trockenen. Nur ein mattes Ächzen entwich ihm.
«Du bist wach», sagte der andere. «Ausgezeichnet.»
Wer immer es war, der neben ihm stand, beugte sich über ihn und verschnürte Brust und Arme mit einem Seil. Wehrlos musste Henry zulassen, dass auch die Beine umwickelt wurden.
Nackte Angst brachte sein Herz zum Rasen und vertrieb den Nebel aus dem Kopf. Er konnte wieder klar denken.
Ich stecke in der Falle
, war sein erster Gedanke, gefolgt von:
Ich muss sterben.
Mit dem Bewusstsein wurde auch sein Körper aktiv. Die Kraft kehrte zurück. Er bäumte sich auf, riss die Lippen auseinander. Die Zunge gehorchte ihm wieder.
«Nein!», stieß er aus.
Unter Aufbietung all seiner Kräfte zwang er die flatternden Lider, sich ganz zu öffnen, und blickte auf eine Gestalt in OP -Kittel und schwarzer Gummischürze. Sie trug eine Maske vor Mund und Nase und hatte die Haare unter einer Papierhaube versteckt. Die Hände steckten in Latex-Handschuhen.
Als Henry die Augen öffnete, riss die Gestalt sich die Maske vom Gesicht und lächelte ihn an.
Es war Martin Swan.
«Hallo, Henry», sagte er. «Du wolltest unsere schöne Stadt verlassen? Gut, dass ich dich noch abfangen konnte.»
Sechsunddreißig
Kat und Nick teilten die notwendigen Telefonate unter sich auf. Nick rief Gloria Ambrose und Tony Vasquez an, Kat meldete sich bei der Landespolizei, dem County-Sheriff und bei Carl.
«Fahr zum Haus von Martin Swan», sagte sie ihrem Stellvertreter. «Sofort!»
Dazu hatten die beiden auch alle anderen aufgefordert. Carl war der Einzige, der Fragen stellte.
«Und wer sorgt draußen für Ordnung?», wollte er wissen. «Die Party-Meute dreht durch.»
Er stand auf der Main Street und telefonierte per Handy. Die Verbindung war schlecht, die Hintergrundgeräusche laut. Trotzdem konnte Kat seiner Stimme anhören, dass er nervös war.
«Tu, was ich dir sage», drängte sie. «Das ist wichtiger.»
«Du hast mir immer noch nicht erklärt, warum.»
«Weil Martin Swan Meister Tod ist.»
Kat war davon überzeugt. Die Beweise lagen auf Nicks Bett verstreut. Martin hatte von Georges und Troys Beisetzung berichtet, war also beide Male dabei gewesen. Alma Winnick hatte erwähnt, dass in der
Gazette
auch von der Trauerfeier für ihren Bruder ein kurzer Artikel gestanden habe, geschrieben ebenfalls von Martin.
Aber noch sehr viel aufschlussreicher als seine Autorschaft war der Spitzname, den er dem Killer nach dem Mord an Troy gegeben hatte. Meister Tod und Ester Domit bestanden aus denselben Buchstaben. Das bedeutete, Martin Swan hatte diesen Spitznamen schon im Kopf gehabt, lange bevor er seinen ersten Mord beging.
«Und was ist mit dir?», fragte Carl. «Was wirst du unternehmen?»
«Ich bin noch im Krankenhaus und werde so schnell wie möglich nachkommen.»
Als Kat aufgelegt hatte, sah Nick sie an.
«Du solltest lieber nicht zu Martin fahren», sagte er.
«Aber ich muss. Er hat Henry.»
«Gloria und die anderen werden ihn finden.»
Seine Stimme
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