Das Schweigen der Toten
drückte sie, ohne lange zu fackeln, das Gefäß zurück in die Wunde und presste die Hand auf den Hals. Zwischen ihren Fingern sickerte Blut hindurch.
«Keine Sorge, es wird schon wieder», versuchte sie zu trösten. «Ich hole Sie hier raus.»
Henry starrte hilflos zu ihr empor. Dankbarkeit und nackte Angst spiegelten sich in seinen Augen. Er öffnete den Mund, und Kat sah, dass ihm die Lippen in Fetzen hingen.
«Nähen», stieß er hervor. «Hals nähen.»
Sie wusste, was zu tun war. Henry drohte zu verbluten. Die Wunde musste sofort geschlossen werden, auch auf die Gefahr hin, dass sie den Mann, der sich selbst Meister Tod nannte, nicht im Auge behalten konnte.
«Sag etwas, Martin», rief sie. «Ich will dich sprechen hören.»
«Was soll ich sagen?»
Am Klang seiner Stimme ließ sich einschätzen, ob er Abstand hielt. Wenn er näher rückte, würde sie schießen.
«Erzähl von Arthur McNeil», antwortete sie. «Ich weiß, was er dir angetan hat.»
«Dann brauche ich es ja nicht mehr zu erzählen.»
Neben dem Skalpell lag eine Nadel mit Faden. Kat verlor keine Zeit. Sie legte die Waffe ab, griff zur Nadel und machte sich mit zitternden Händen an die Arbeit. Vor lauter Blut konnte sie die Wundränder kaum erkennen. Sie stach aufs Geratewohl zu.
«Wann hat es angefangen? Schon vor dem Tod deines Vaters?»
«Ja», sagte Martin. Kat hörte, dass er sich nicht vom Fleck bewegte. «Ich war damals elf.»
«Es hat unten in seinem Keller stattgefunden, da, wo er die Leichen einbalsamiert, stimmt’s?»
«Ja.»
«Während deine Mutter oben arbeitete?»
«Ja.»
Kat nähte weiter.
«Als dein Vater starb, hat dir Arthur versprochen, damit aufzuhören, wenn du etwas für ihn tun würdest. Was war das?»
«Du scheinst doch genau Bescheid zu wissen», sagte Martin trotzig. «Sag du’s mir.»
«Er hat verlangt, dass du deinen Vater einbalsamierst, dir gezeigt, an welcher Stelle der Hals aufzuschneiden ist und wie die Gefäße herausgeholt werden. Du musstest deinen Vater mit Formalin vollpumpen, ihm dann die Lippen zunähen und Pennys auf die Augen legen.»
Welch unglaubliche Zumutung. Martin hatte seinen Vater verloren und war von einem vertrauten Freund der Familie dazu gezwungen worden, Dinge zu tun, die für ein Kind jenseits aller Vorstellung lagen.
«Habe ich recht?», fragte sie.
Kat stieß die Nadel ein letztes Mal durch die Haut und verknotete den Faden. Ein scheußliches Flickwerk, das sie zustande gebracht hatte, aber die Blutung war merklich zurückgegangen.
«Antworte mir, Martin. Ist es so gewesen?»
«Ja.»
Kat schreckte auf, als sie seine Stimme hörte.
Er war näher gekommen.
Sehr viel näher.
Blitzschnell griff sie nach der Glock und wirbelte herum.
Martin stand zwei Schritte vor ihr, ebenfalls mit einer Waffe in der Hand. Kat ahnte, dass es die Pistole war, die im Handschuhfach des Lieferwagens gelegen hatte und auf Lucas Hatcher abgefeuert worden war.
Wortlos drückte Martin zweimal ab.
Die Geschosse trafen auf Kats Brust. Sie schrie und sackte in sich zusammen. Das Letzte, was sie sah, war Henry, der in einer Lache von Blut lag und versuchte, ihren Namen zu sagen.
Mit dumpfem Aufprall schlug sie auf dem Boden auf. Ihr stockte der Atem, und dann wurde es dunkel um sie.
Henry zerrte an seinen Fesseln und versuchte, Kats Namen zu rufen. Er bekam keinen Laut heraus, doch seine Gedanken waren so laut, dass er glaubte zu schreien.
Kat! Um Himmels willen, nein!
Mit aller Macht versuchte er sich aufzurichten, doch das Seil hielt ihn zurück. Er musste sehen, ob sie noch lebte. Wenn ja, würde er ihr helfen müssen, so wie sie ihm geholfen hatte. Die Fesseln aber gaben nicht nach. Es war zwecklos aufzubegehren.
Kat! Können Sie mich hören? Antworten Sie!
Er drehte den Kopf, so weit es das Seil und die Schmerzen erlaubten, und sah Kats Beine, auf dem Boden ausgestreckt. Tränen strömten ihm übers Gesicht, als es ihm endlich gelang, ihren Namen auszusprechen.
«Kat.»
Seine Gedanken schrien den Rest.
Nicht sterben, bitte, nicht sterben!
Martin versetzte Kat einen Tritt in die Rippen. Zufrieden damit, dass sie keine Reaktion zeigte, steckte er seine Waffe zurück in die Schürzentasche, wo sie die ganze Zeit gewesen war. Dann bückte er sich und hob Kats Pistole vom Boden auf, öffnete die Kammer und ließ die Munition in seine Handfläche fallen. Schließlich schleuderte er zuerst die Patronen und dann die Pistole im hohen Bogen durch den Raum, und sie gingen laut
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