Das Schweigen der Toten
Meldung richtig ist.»
Henry hörte sie mit Papier rascheln und auf einer Tastatur klappern.
«Wir haben hier nichts über ihn», erklärte sie schließlich. «Ist das Fax von uns gekommen?»
Henry sagte ihr, dass es von überhaupt keinem Bestattungsunternehmen gekommen war – was auch für unlautere Absicht sprach. Weil er dem nichts hinzuzufügen hatte, bedankte er sich bei Deana für die Hilfe und legte auf, bevor sie Gelegenheit hatte, ihren Vorschlag zu wiederholen. Dann griff er nach dem Fax mit der Meldung vom Tod George Winnicks, zerknüllte es zu einem festen kleinen Ball und warf es in den Papierkorb.
Den restlichen Vormittag über verfasste Henry Nachrufe auf Leute, die tatsächlich gestorben waren – insgesamt vier. Zwei Todesfälle waren von auswärtigen Bestattungsunternehmen gemeldet worden, zwei hatte ihm Deana zugefaxt. Auf dem zweiten Fax war unter dem Firmenlogo in ihrer Handschrift zu lesen: «Tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe.»
Das hatte sie allerdings, vor allem, weil sie Henry in seiner Routine gestört hatte.
Er arbeitete so, wie er lebte: ohne jegliche Spontanität. In seinem lückenlos durchorganisierten Büro hatte jedes Detail seinen Platz und seinen Zweck. Die Schreibtischlampe beleuchtete einen engen, fensterlosen Raum. Im Bücherregal lag wohlgeordnet jede Menge Quellenmaterial. Das Faxgerät stand in unmittelbarer Nähe und lieferte ihm den Stoff für seine Arbeit.
Wenn er schrieb, spielte er eine der vielen tragischen Opern ab, die er auf der Festplatte seines Computers gespeichert hatte. An diesem Morgen hörte er Wagners
Tristan und Isolde
. Die Musik lenkte ihn nicht etwa ab, im Gegenteil, die furiosen Orchesterklänge, Bravourarien und die Geschichte einer zum Scheitern verurteilten Liebe halfen ihm, in Stimmung zu kommen und über jene zu schreiben, die ihre sterbliche Hülle verlassen hatten. Als Isolde an gebrochenem Herzen starb, hatte er seine Arbeit für diesen Vormittag erledigt.
Zu Mittag aß er pünktlich um zwölf, das gleiche wie am Vortag – ein Putensandwich und einen kleinen Salat, von zu Hause mitgebracht, dazu eine Flasche Mineralwasser aus dem Getränkeautomaten im Verlagshaus.
Im Pausenraum stand ein Reporter vor einem Snack-Automaten und schien unschlüssig. Er schenkte Henry ein gequältes Lächeln, das dieser nicht erwiderte. Henry Ghoul lächelte nie.
Der Reporter hieß Martin Swan. Er sah auf seine Art gut aus und wirkte wie ein ehemaliger Footballstar, der in der Arbeitswelt Fuß zu fassen versuchte. Sein weißes Hemd war auf Taille geschneidert, und die seidene Krawatte hing auf einer breiten Brust, unter der sich ein Bierbäuchlein auszubilden begann. Henry wusste von ihm nur, dass er Deanas Bruder war. Solche Zufälle gab es in einer so kleinen Stadt wie Perry Hollow nicht selten. Weil sie über die Schwester irgendwie miteinander in Beziehung standen, fühlte sich Martin immer genötigt, mit Henry ein Gespräch anzufangen, wobei er aber meist einen recht gleichgültigen Eindruck machte. Heute war es anders.
«Sie werden von meiner Schwester bald eine Todesanzeige bekommen», sagte er.
Henry stand an dem benachbarten Automaten und suchte in der Tasche nach Kleingeld. «Wie kommen Sie darauf?»
Martins Stimme klang ungewöhnlich lebhaft. «Haben Sie denn noch nicht gehört, was passiert ist?»
«Was ist denn passiert?»
«Es hat heute Morgen einen Mord gegeben. Chief Campbell hat das Opfer in einem Sarg an der Old Mill Road gefunden. Gruselig. Der arme George.»
Der Name machte Henry stutzig. «George Winnick?»
Martin nickte. «Haben Sie ihn gekannt?»
Henry fühlte einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Er wunderte und fürchtete sich zugleich. Dieser Zufall war so unglaublich, dass man sich unweigerlich ein bisschen fürchten musste.
«Wann wurde er gefunden?»
«Ich glaube, gegen acht oder so», antwortete Martin. «Ist Ihnen was zu Ohren gekommen? Ich mach was über die Geschichte, deshalb interessiert’s mich natürlich.»
Henry verließ wortlos den Pausenraum, eilte über die Treppe nach oben, stürzte in sein Büro und durchwühlte den Papierkorb, bis er das zusammengeknüllte Stück Papier gefunden hatte.
George Winnick aus Perry Hollow starb am 14. März um 22:45 Uhr im Alter von 67 Jahren.
In der oberen linken Ecke war abzulesen, wann das Fax abgeschickt worden war. Henry las die Meldung drei Mal und konnte es immer weniger glauben. Wieder fuhr ihm ein kalter Schauer über den
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