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Das Schweigen der Toten

Das Schweigen der Toten

Titel: Das Schweigen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
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zu ihrem Streifenwagen, holte ein Brecheisen aus dem Kofferraum und kehrte zu der Kiste zurück. Mit Hilfe des Eisens ließ sich der Deckel ohne weiteres öffnen.
    Als Erstes sah sie ein Paar gelbbrauner Arbeitsstiefel, dann eine dreckverschmierte Hose mit Latz über einem roten Flanellhemd und schließlich das vom Kragen umrahmte Gesicht eines Mannes Ende sechzig.
    Unwillkürlich wich Kat zurück. Auf halbem Weg zwischen der Kiste und ihrem Auto drehte sie sich zur Seite und schlug eine Hand vor den Mund. Die andere drückte sie in die rechte Seite, wo der Schreck zu sitzen schien.
    Nach einer Minute zwang sich Kat, einen zweiten Blick in die Kiste zu werfen. Es versetzte ihr einen zweiten Schlag, als sie bemerkte, dass sie den Toten kannte.
    Er hieß George Winnick und hatte einen Hof mit über zwanzig Hektar Land am Stadtrand von Perry Hollow bewirtschaftet. Kat kannte ihn nicht besonders gut. Sie hatten sich im Supermarkt oder auf der Straße gegrüßt, sonst aber kaum ein Wort miteinander gewechselt. Aber er war eine feste Größe in der Stadt, sie wusste, dass er schwer arbeitete, anständig und verlässlich war. Kat konnte sich nicht vorstellen, aus welchem Grund er hier an der Old Mill Road in einer Kiste aus Kiefernholz lag.
    «George», flüsterte sie und näherte sich dem Toten. «Was ist passiert?»
    Der Leichnam war in den Sarg gestopft worden wie eine Puppe in einen Schuhkarton. Die Arme waren über der Brust gekreuzt, sodass die Hände auf den Schultern lagen. Hände, Hals und Gesicht waren so fahl wie das aschfarbene Haar.
    Zwei blankpolierte Pennys lagen auf den Augen, unter buschigen grauen Brauen. Beide Münzen zeigten die Kopfseite – das Profil von Abraham Lincoln. Die Wirkung war gespenstisch. Die Pennys sahen selbst wie Augen aus, starr und leblos.
    Eine Wunde erstreckte sich über die linke Seite seines Halses, halb verdeckt vom Kragen. Kat schob den Stoff beiseite und starrte auf eine Schnittwunde, rund zehn Zentimeter lang und mit schwarzem Faden vernäht, an dem gefrorenes Blut klebte.
    Auch auf den Lippen war Blut, das auf den ersten Blick aussah wie vereistes, von Rost verunreinigtes Wasser, eine harte Kruste, unter der wiederum ein im Zickzackstich vernähter schwarzer Faden zu sehen war.
    George Winnick war der Mund zugenäht worden.
    Kat schnappte nach Luft, so heftig fuhr ihr wieder der Schmerz in die Rippen, ein überwältigender Eindruck, teils Ekel, teils Entsetzen. Aber sie schaffte es, zum Streifenwagen zu gehen und Carl anzufunken.
    «Hör mir gut zu», sagte sie. «Ruf den Rettungsdienst. Er soll sich sofort auf den Weg machen.»
    «Ist was in der Kiste?»
    «Ja. George Winnick.»
    Carl reagierte, wie Kat erwartet hatte – er murmelte ein Gebet. Sie wartete. Nachdem er amen gesagt hatte, fragte er: «Wie ist er gestorben?»
    «Ich weiß es nicht. Wir müssen jedenfalls den County-Sheriff verständigen. Er soll einen Gerichtsmediziner mitbringen. Wir brauchen Hilfe, denn das hier –»
    Sie stockte, als ihr klar wurde, dass sie für
das hier
keine Worte hatte, geschweige denn eine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Sie wusste nur, dass sie richtig gelegen hatte, was die unbarmherzige Kälte betraf. Sie
war
ein schlechtes Omen.
    Ein sehr schlechtes.

Zwei
    In jeder Todesanzeige steht eine Zeile, die Auskunft darüber gibt, wer wann woran gestorben ist. Sie wird in Amerika auch
death sentence
genannt, was gleichzeitig «Todesstrafe» bedeutet. Henry Goll, der von Berufs wegen Nachrufe verfasste, hatte an diesem Wortspiel Gefallen. Für ihn zielte der Begriff auf eine tiefere, dunkle Wahrheit: Mit der Geburt sind wir alle zum Tode verurteilt.
    Zu Henrys Pflichten gehörte es, darauf zu achten, dass jede in der
Perry Hollow Gazette
abgedruckte Todesanzeige eine solche Zeile enthielt. Im Allgemeinen stellte das kein Problem dar. Wer einen Todesfall in der Familie zu beklagen hatte, wandte sich an den einzigen Bestatter im ganzen County, der wiederum Henry per Fax informierte. Der saß in seinem winzigen Büro und formulierte dann einen respektvollen Überblick über das Leben des Dahingeschiedenen. Zuerst kam der
death sentence
. Er war wie das Fleisch am Knochen: das Einzige, was den Leser wirklich interessierte. Alles andere – Familie, Beruf, Erfolge – war Beiwerk.
    Henry wusste, dass mit den Angaben zum Tod von George Winnick irgendetwas nicht stimmte. Außer einem Namen und dem Todeszeitpunkt waren ihm keinerlei Informationen zu entnehmen.
    George Winnick aus Perry

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