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Das Schweigen der Toten

Das Schweigen der Toten

Titel: Das Schweigen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
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Hollow starb am 14. März um 22:45 Uhr im Alter von 67 Jahren.
    Henry schrieb schon seit fünf Jahren Nachrufe für die
Gazette
und war Experte darin, Falschmeldungen aufzudecken, die in alarmierender Häufigkeit auf seinem Schreibtisch landeten. Er konnte zwar nicht verstehen, wie irgendjemand Scherze damit treiben konnte, aber viele machten das. Die schlimmsten Übeltäter waren Teenager, die einen verhassten Lehrer für tot erklärten. Viele solcher Meldungen kamen aber auch von Freunden eines angeblich Toten, meistens während eines runden Geburtstags. Henry passte darauf auf, dass nichts dergleichen in der Zeitung erschien. Wenn er zum Beispiel las, jemand sei an seinem fünfzigsten Geburtstag gestorben, warf er die Meldung automatisch in den Papierkorb.
    Fast wäre er so auch mit dem Fax verfahren, das auf ihn wartete, als er an diesem Morgen sein Büro betrat. Weil aber an dem angegebenen Alter und Datum nichts verdächtig zu sein schien, hielt er es für besser, nachzuprüfen, ob es sich tatsächlich um eine Falschmeldung handelte, ehe er sie dem Müll überantwortete.
    Er rief im Bestattungsinstitut McNeil an – sein erster und einziger Anruf an diesem Tag. Es war ein kleines Unternehmen am Ende der Oak Street, von Vater und Sohn geführt, die in Perry Hollow das Monopol in Sachen Tod hatten. Wenn jemand wusste, wer in der Stadt gestorben war, dann waren es die Leute von McNeil.
    Deana Swan, die Telefonistin, ging schon nach dem ersten Klingeln ans Telefon.
    «McNeil Bestattungen», meldete sie sich mit gelangweilter Stimme. «Mein Name ist Deana. Wie kann ich Ihnen helfen?»
    Henry räusperte sich. «Henry Goll von der
Perry Hollow Gazette

    «Hey, Henry», begrüßte ihn Deana salopp.
    «Ich habe eine Frage zu einem Fax, das ich bekommen habe.»
    «Warum sagen Sie eigentlich nicht erst mal ‹Hallo› zu mir?»
    «Wie bitte?», entgegnete er verwirrt.
    «Sie rufen jeden Tag an und kommen immer gleich zur Sache. Kein Gruß, kein Schwätzchen. Warum nicht?»
    Henry suchte nach Worten. «Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich nicht so interessant.»
    Deanas «So ein Unsinn» überraschte ihn, zumal sie ihren Gedanken nicht weiter ausführte. Henry fand sich vollkommen uninteressant.
    «Glauben Sie mir», sagte er. «So ist es.»
    Henry log nicht. Früher war er vielleicht mal interessant gewesen, aber seit fünf Jahren lebte er zurückgezogen und nur für seine Arbeit. Tag für Tag betrat er Punkt neun sein Büro in der dritten Etage. Er machte eine Stunde Pause, in der er am Schreibtisch zu Mittag aß, und arbeitete bis sechs. Wenn er ging, verließ er das Verlagshaus über die Hintertreppe, um keinem Kollegen von der Redaktion über den Weg zu laufen. Zu Hause angekommen, trainierte er genau eine Stunde lang. Danach machte er sich etwas zu essen, sah fern, meist irgendeinen alten Film, oder las ein Buch, bis er müde wurde. Morgens frühstückte er, packte sein Lunchpaket für die Mittagspause und ging zur Arbeit.
    Diese immergleiche Routine und die Tatsache, dass er sein bleiches Gesicht nie in der Redaktion zeigte, hatten ihm den Spitznamen Henry Ghoul – der Leichenfledderer – eingebracht.
    Alle glaubten, er hätte keine Ahnung, dass er hinter seinem Rücken so genannt wurde. Aber er wusste es. Und wie das Wort
death sentence
fand er auch diesen Spitznamen auf amüsante Weise angemessen. Er war das Phantom der Redaktion, der seltsame Kauz, der über Tote schrieb. Manchmal verhielt er sich absichtlich dementsprechend, schlich wie ein Gespenst über die Hintertreppe und ließ aus seinem Büro unter dem Dach düstere Musik erklingen.
    «Nun, ob interessant oder nicht», sagte Deana, «besuchen Sie mich doch mal. Wir könnten zusammen Mittagessen gehen.»
    Ihr Vorschlag verblüffte ihn noch mehr.
    «Das ist wahrscheinlich keine gute Idee», erwiderte Henry.
    «Warum? Ich weiß nicht einmal, wie Sie aussehen.»
    Henry strich unwillkürlich mit den Fingerkuppen über die Narbe, die an seinem linken Ohr begann, im Mundwinkel durch Ober- und Unterlippe verlief und am Kinn endete. Er befühlte die wulstige Haut über dem linken Auge, den Brandfleck, der sich dunkelrot von seiner hellen Haut absetzte. Morgens war er immer besonders dunkel und wurde im Verlauf des Tages ein wenig heller.
    «Um nochmal auf das Fax zurückzukommen», sagte er.
    Deana verbarg ihre Enttäuschung nicht, sie war ihrer Stimme deutlich anzuhören. «Natürlich. Wie lautet der Name?»
    «George Winnick. Ich frage mich, ob die

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