Das Schweigen der Toten
und haben geschmollt. Als Ronette dann in der Nacht auf den Strich gegangen ist, sind Sie wieder nach unten geschlichen, haben die Tür aufgebrochen und Lainie getötet.»
Edgar nahm kurz den Daumen aus dem Mund und sagte: «Das haben mir die Stimmen befohlen.»
«Es gab keine Stimmen», entgegnete Nick eine Spur ungehaltener. «Da waren nur Sie, und Sie allein haben aus eigenem Antrieb die kleine achtjährige Lainie umgebracht. Und offenbar hat Ihnen das so gut gefallen, dass Sie sich sechs Monate später an der Tochter einer anderen Prostituierten vergangen haben.»
Nick warf das zweite Foto auf den Tisch.
«Und dann haben Sie es wieder getan.»
Das dritte Foto war, wie die beiden anderen, von Edgar Sewell höchstpersönlich aufgenommen worden. Es waren Bilder seiner Opfer – das jüngste sechs, das älteste elf Jahre –, die ihren Mörder aus unschuldigen Augen betrachteten.
Edgar warf einen Blick darauf. «Sie haben es verdient.»
«Wer? Die Mädchen?»
«Ihre Mütter. Diese dreckigen Flittchen. Halten sich für was Besseres und sind in Wirklichkeit miese, kleine Nutten. Haben sich lustig gemacht über mich, genauso wie –»
«Ihre Mutter?»
Edgar nickte so heftig mit dem Kopf, dass Nick um den Daumen fürchtete, der bis zum Anschlag im Mund steckte. Kurz darauf verblüffte Edgar ihn mit einer Reaktion, die Nick den beiden anderen Mördern bei der Vernehmung nicht hatte entlocken können.
Er weinte.
Die Vernehmung war vorbei. Nick wusste, dass aus Edgar kein Wort mehr herauszubekommen sein würde. Was bedeutete, dass er nun ins nächste Gefängnis fahren musste – ins Centre County –, um dann, wenn so viel Zeit blieb, noch zwei weitere aufzusuchen.
Bevor Nick sich auf den Weg machte, ging er auf die Besuchertoilette, die über einer Tankstelle lag. Eine Kloschüssel, ein Urinal. Auch das Waschbecken war ekelhaft verdreckt. Nick spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte, nach Möglichkeit nichts zu berühren. Aus dem Spiegel starrte ihm ein hohläugiger Mann entgegen.
Himmel, er war hundemüde. Dies war bereits die zweite Woche, in der er einen Mörder nach dem anderen zu vernehmen hatte, und all die Gespräche und all die Autofahrten schlauchten ihn zusehends. Aber es würde sich lohnen, das hoffte er jedenfalls.
Er trocknete das Gesicht ab, verließ die Toilette und dann auch das Gefängnis, erleichtert, wieder im Freien zu sein, raus aus den vergitterten Zellen mit all ihrem Schmutz. Seine Stimmung erholte sich so weit, dass er ein Liedchen pfeifen konnte, einen kleinen «Folsom Prison Blues» zu Ehren seiner näheren Umgebung.
Die gute Stimmung hielt nicht lange vor. Als er den Parkplatz erreichte, sah er sich unerwartetem Besuch gegenüber.
Captain Gloria Ambrose, seine unmittelbare Vorgesetzte bei der Kriminalpolizei von Pennsylvania, lehnte an dem zivilen Fahrzeug, das sie hergebracht hatte. Um sich warm zu halten, hatte sie die Arme um den Leib geschlungen, ließ sie aber sinken, als sie ihn erblickte. Typisch Gloria. Versuchte immer, taffer zu wirken, als sie in Wirklichkeit war.
«Wie hast du mich gefunden?»
«Du hast einen offiziellen Antrag zur Vernehmung eines Strafgefangenen eingereicht», antwortete Gloria. «War ganz einfach. Vielleicht erklärst du mir mal, wieso du Gefangene vernimmst, obwohl du Urlaub hast.»
Nick hatte tatsächlich Urlaub. Und wie er seine freie Zeit verbrachte, war seine Sache.
«Was hast du?», fragte er gereizt. «Du bist doch nicht gekommen, um mich an meinen Urlaub zu erinnern.»
Er ahnte den Grund. Gloria brauchte nichts zu sagen. Ihre Anwesenheit sprach für sich.
«Er hat wieder zugeschlagen.»
«Wo?»
«In einem kleinen Nest namens Perry Hollow. Rund fünfundvierzig Autominuten von hier entfernt. Deine Kollegen sind schon vor Ort.»
«Ich nehme an, du willst, dass ich das Team komplett mache», sagte Nick.
Gloria hatte offenbar genug von der Kälte und verkroch sich in ihrem Wagen. «Das bleibt dir überlassen», erwiderte sie und warf einen Blick auf die graue Gefängniswand hinter Nick. «Wie gesagt, du hast Urlaub.»
Sie zog die Tür zu und ließ Nick im kalten Wind und mit der einen Frage zurück, die er noch nicht gestellt hatte. Er wollte gerade ans Fenster klopfen, als sich die Scheibe automatisch senkte.
«Keine Sorge», sagte sie mit ernstem Blick. «Ich werde über deine außerberuflichen Aktivitäten kein Wort verlieren. Aber wenn du das nächste Mal Urlaub anmeldest, dann nimm ihn auch. Du machst dir viel
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