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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Peter Strudl benannt,einem kaiserlichen Hof- und Kammermaler, der seinerzeit die erste Kunstakademie Mitteleuropas gegründet hat: die Wiener Akademie der bildenden Künste. Gleich oberhalb des Steilhangs wurde die Schule gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts eröffnet, auf dem Gelände eines weitläufigen Parks, des Strudlhofs eben. Das waren Zeiten, denkt der Lemming, als die Kunst noch ihren Wert bestimmte und nicht der Wert die Kunst. Obwohl damals der Anfang vom Ende, der unaufhaltsame Niedergang von Kultur und Menschlichkeit bereits eingeläutet war. Schon zu Strudls Zeiten nämlich hatte eine der grausamsten Geißeln der Menschheit ihren Siegeszug durch Europa angetreten: die Krawatte.
    Der Lemming kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine Krawatte getragen hat. Schritt für Schritt keucht er die Stufen hinauf, zerrt am Kragen des frisch gebügelten Hemdes und verflucht die konservative, ja geradezu reaktionäre Mode der männlichen Bourgeoisie. Von einer so genannten Modeströmung, denkt er, kann man ja längst nicht mehr sprechen bei einem Kleidungsstück, das von den kroatischen Söldnern Ludwigs   XIV. aufgebracht wurde. Strömung ist immerhin Strömung. Etwas, das sich im Fluss befindet. Was aber dieser lächerliche Stofflappen zum Fließen bringt, ist einzig und allein der Schweiß. Na ja, vielleicht auch noch die Tränen der Hinterbliebenen, wenn sich der Krawattenträger endgültig ins Jenseits stranguliert hat. Ausgerechnet die mediterranen Kroaten, ausgerechnet der
Sonnenkönig
. Ein Witz   …
    Schon auf dem ersten Treppenabsatz legt der Lemming eine Pause ein. Aus einer bunten Mosaikwand ragt hier ein kompakter schwarzer Fischkopf, der glitzerndes Wasser in ein Marmorbecken speit. Der Lemming formt mit seinen Händen ein Gefäß, beugt sich vor, trinkt mit gierigen Zügen. Und schon ist es passiert: angeschüttet, mitten auf die dunkelgraue Hose, und zwar ganz genau da, wo man sich auch von innen her anschütten kann. Wie hat Stropek seine gestrigenInstruktionen so trefflich formuliert?
Schauen S’ mir, dass Sie was gleichschauen   … Sie sind ja quasi unser Repräsentant
… Bravo, Lemming, so also sieht ein würdiger Vertreter der Schönbrunner Zoogesellschaft aus: nicht nur schweißtriefend und hechelnd, sondern auch noch kräftig angebrunzt   … In der Haltung eines Jockeys – die Beine gespreizt, das Gesäß weit nach hinten gestreckt   –, so steht er nun da und schimpft vor sich hin. Ein Bild des Jammers, ein Anblick, der, wie es scheint, selbst die unbarmherzige Sonne erweicht: Sie wirft einen rettenden Strahl auf den neuralgischen Punkt und lässt den Fleck im Handumdrehen verschwinden. Der Lemming geht weiter, mit aufrechtem, trockenem Schritt.
    Nur wenige Meter vom oberen Absatz der Treppe entfernt steht das Haus, dessen Anschrift ihm Stropek genannt hat. Durchaus ein stattliches Gebäude, so wie die meisten der Wiener Gründerzeithäuser, aber dennoch ein wenig vernachlässigt: Durch das rußige Mauerwerk ziehen sich Risse, mancherorts blättert auch schon der Verputz ab. Zwei angeschlagene Atlanten, die einen offenbar ungenutzten Balkon auf ihren Schultern tragen, blicken betrübt auf den Lemming herab. Und hier, in diesem unscheinbaren Wohnbau, soll Jochen Hörtnagl residieren? Nicht gerade Versailles, denkt der Lemming, während er auf die oberste, unbeschriftete Klingel drückt, auch wenn ein kleiner Sonnenkönig darin sitzen mag   …
    Ohne jeden Kommentar ertönt der Summer der Eingangstür; der Lemming durchschreitet die hohe, mit Stuckaturen verzierte Vorhalle und betritt den vorsintflutlichen Aufzug: ein schwarzer Eisenkäfig, der unter der plötzlichen Last seines Fahrgasts ein unüberhörbares Ächzen ausstößt. Hätte er Augen, der Lift, er würde sie jetzt zweifellos verdrehen, um seiner Klage Nachdruck zu verleihen. Stattdessen präsentiert er dem Lemming einen Schlitz in seiner Wand, daneben ein Messingschild mit der Aufschrift:
Patent-Ascenseur. Fährt nur nach oben. Einwurf 1   Schilling. Stockwerk wählen – Knopf
drücken.
Über der Messingplakette ist ein handgeschriebener Zettel befestigt:
Penutsen 50   Cent.
    Der Lemming kramt in seinen Taschen, doch vergeblich. Als er unverrichteter Dinge die Liftkabine verlässt, um zu Fuß ins oberste Stockwerk zu steigen, ertönt ein fröhliches Quietschen in seinem Rücken: ein Ausdruck der Schadenfreude, aber auch – im wahrsten Sinn des Wortes – der Erleichterung.
    Halb offen steht die

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