Das Schweigen des Lemming
Lebenszeit vorwiegend damit verbringen, Güter und Geld anzuhäufen, im selben Maß verachtens- wie auch bedauernswert. Verachtenswert, weil sie nicht nur sich selbst ein Ei damit legen, sondern weil sie der ganzen Welt in die Eier treten: Schließlich vergiften sie mit dieser niedrigsten aller erdenklichen Süchte nicht nur das eigene Leben, sondern auch das ihrer Mitmenschen. Bedauernswert, weil auch sie im Grunde nichts haben von ihrer – gleichsam redundanten – Gier: Sie ähneln einem Wahnsinnigen, der Schlauchboote sammelt, ohne je das Meer zu Gesicht zu bekommen.
Entfaltet hier der Neid des kleinen Mannes seine Wirkung? Sind dem chronisch erfolglosen Lemming die unerreichbarenTrauben zu sauer? Nein, verteidigt er sich vor sich selbst. Er ist nur ein gänzlich unmoderner Charakter: Im Grunde zufrieden mit dem, was er hat, fühlt er sich leider erst dann richtig wohl, wenn auch alle anderen Menschen zufrieden sind. Also eigentlich nie. Außerdem – das muss er nun doch vor sich eingestehen – ist ihm Jochen Hörtnagl ganz einfach unsympathisch.
«Sie werden sich vielleicht wundern, dass ich Sie ausgerechnet hierher bestellt habe», beginnt dieser nun in geschäftlichem Ton. «Keine Empfangsdame, keine Sekretärin, keine Computer. Eine spartanische Küche zwar, aber kein Schlafzimmer. Nun, ich verwende diese bescheidene Absteige für sporadische Soireen und … informelle Treffen, wenn ich so sagen darf. Wo Sie gerade sitzen, ist schon manch anderer Hoffnungsträger gesessen. Unlängst erst unser Finanzminister. Es handelt sich also weder um meine Wohnung noch um mein Büro …»
Ja wie denn auch?, kontert der Lemming in Gedanken. Leute deines Kalibers besitzen wahrscheinlich gar kein Büro. Oder anders gesagt: Die ganze Welt ist euer Büro, eure megalomane Spielwiese. So als wärt ihr schwirrende Insekten, die – mal hier, mal da – das letzte Quäntchen Blut aus einem ohnehin schon anämischen Körper saugen und denen es ganz egal ist, ob sie ihren gierigen Rüssel links oder rechts, in die oberen oder die unteren Backen versenken …
«Worauf ich hinauswill», fährt Hörtnagl fort und legt mit bedächtiger Geste die Finger aneinander, «ist, dass ich Stillschweigen wünsche. Über Ihren Besuch, unser Gespräch und mein Anliegen. Ich möchte selbstverständlich helfen, aber nicht um Profit daraus zu schlagen. Weder finanziell noch medial. Wir wollen ja meine Marketingleute nicht arbeitslos machen.» Hörtnagl lehnt sich zurück und quittiert seinen Scherz mit kurzem, dröhnendem Lachen. Der Lemming lächelt höflich mit.
«Gut. Wir verstehen uns also. Der Doktor Stropek hat mir von Ihnen erzählt, von Ihrem … kriminalistischen Vorleben. Perfekt. Genau das, was wir brauchen. Ich nehme an, er hat auch Sie bereits darüber informiert, worum es mir geht. Ich will den Schabernack von Samstagnacht nicht ungesühnt lassen. Wieso, werden Sie sich jetzt fragen. Nun, der springende Punkt ist: Ich habe die Patenschaft für diese … diese Tiere übernommen, und in meinem Metier lernt man rasch, dass Verantwortung Pflichten mit sich bringt. Eine gewisse Entschlossenheit, wenn Sie so wollen. Der freie Markt ist ein steiniges Pflaster, junger Mann, und ein steiniges Pflaster betritt man besser nicht mit bloßen Füßen. Da darf man sich nichts gefallen lassen, auch wenn man sich manchmal … nun, zu unorthodoxen Methoden gezwungen sieht. Aber bitte, wie pflege ich als Transportunternehmer zu sagen: Was ist schon ein Mann ohne Laster?»
Wieder belohnt sich Jochen Hörtnagl mit lautem Gelächter. Lässt dann abrupt die Mundwinkel sinken und beugt sich vor. «Was wissen wir über die Sache?»
«Ich … wir … Bis jetzt so gut wie gar nichts», stammelt der Lemming. «Zwei aufgebrochene Türen, ein aufgeknüpfter Pinguin. Der Strick ist Massenware, den kann man laufmeterweise im Baumarkt kaufen. Mindestens einer der möglichen Täter muss gewartet haben, bis der Vogel tot war; in seinem Schnabel habe ich nämlich …»
«Schon gut, schon gut», winkt Hörtnagl ab. «Ich sehe, Sie sind ein Vollprofi. Aufmerksam, smart, wunderbar, sehr gut. Aber eine ganz andere Frage», fügt er mit leicht gesenkter Stimme hinzu. «Sagen Sie, hätten Sie in der – na ja, in der Mordnacht überhaupt Dienst gehabt?»
Der Lemming hört die Alarmglocken schrillen. Es ist zwar kein greller Trompetenklang, der ihn da plötzlich zur Wachsamkeit ruft, aber doch so etwas wie der nervöse Triller einer
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