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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Adresse   … Haben S’ was zu schreiben bei der Hand? Wallisch?»
    «Ja, Herr Doktor.» Ein müdes
Ja
. Müde und hoffnungslos. Ein
Ja
wie aus den finsteren Kellern der heiligen Inquisition. «Irgendwelche Einwände, Wallisch?»
    «Ja, Herr Doktor. Ich muss mich ausschlafen. Heut Nacht bin ich wieder im Dienst, und morgen auch   …»
    Das Spektrum der Stropek’schen Seufzer scheint unerschöpflich zu sein. In diesem Fall ist es die schiere Erleichterung, mit der er dem Lemming ins Ohr stöhnt.
    «Schlafen S’ nur, Wallisch, schlafen S’ nur, solang Sie wollen. Das hab ich schon alles geklärt; Sie sind selbstverständlich dienstfrei gestellt bis auf weiteres. Ich weiß zwar noch nicht, wen ich in der G’schwinden als Ersatz auftreiben kann, aber es wird sich schon jemand finden. Nein, nein, keine Angst, natürlich nicht der Pokorny, der ist erst am Mittwoch wieder eingeteilt. Der soll sich nur ordentlich auskurieren, ist ja auch nicht mehr der Jüngste, nicht wahr, und außerdem   … hat er sein Telefon abgeschaltet   …»
    Erwischt, Stropek. Erwischt, du alter Sklaventreiber   …
    «Aber um auf die leidige G’schicht zurückzukommen: Nur für den Fall, dass Sie die Leiche, also dass Sie den Vogel noch brauchen können, ich hab ihn hinüber ins Kühlhaus bringen lassen. Was weiß ich, wie man da vorzugehen pflegt, vielleicht wollen S’ ja nach Fingerabdrücken suchen oder so was   …»
    «Nein, Herr Doktor, nicht nötig. Ich fürchte, wir haben esda mit ganz besonders ausgebufften Profis zu tun, die hinterlassen keine Spuren   …»
    «Im Ernst?», stößt Stropek erschrocken hervor, ehe ihm der ironische Tonfall des Lemming bewusst wird. «Geh, Wallisch, lassen S’ mir die blöden Witze!», setzt er ärgerlich hinzu.
    «Wie Sie wünschen, Herr Doktor   …»
    «Ah ja, und, Wallisch?»
    «Ja, Herr Doktor   …»
    «Schauen S’ mir, dass Sie was gleichschauen morgen   … Sie sind ja quasi unser   … na ja, unser Repräsentant.»
     
    «Hörtnagl?» Klara zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. «
Der
Hörtnagl?»
    «Ja», meint der Lemming und lehnt sich zurück. «Spediteur, Magnat und Pate   … Tierpate», setzt er auf Klaras fragenden Blick hinzu. «Obwohl er auch sonst   … Na, was man so hört, stehen fast alle abgehalfterten österreichischen Politiker auf seiner Lohnliste. Von den amtierenden möcht ich’s gar nicht wissen   …»
    «Lobbying nennt man das wohl, heutzutage   … Poldi?»
    «Mhm   …»
    «Gib Acht auf dich   … Mach keine Blödheiten   …»
    «Mhm   …»
    «Poldi?»
    «Mhm   …»
    «Hast du mir die Salzgurken mitgebracht?»
    «Scheiße, vergessen.»
    «Macht nichts, bleib sitzen. Ich hol sie mir später   …»
    «Sicher?»
    «Sicher   …»
    Voll und rund wie Klaras Lächeln strahlt die Sonne vom Himmel und tanzt, vom Laubwerk der Laube zerstreut, auf den halb geschlossenen Augen des Lemming. Er schüttelt sie ab und steht auf.
    «Und jetzt?», fragt Klara.
    «Bett   …», meint der Lemming. «Bett   … Nur eine halbe Stunde   …»
    «Wart noch, nur kurz   … Na komm schon, ich zeig dir was   …»
    Von Büschen und Bäumen verborgen hängt in der hintersten Ecke des Gartens der große, blaue Kindertraum des Lemming. Mit Karabinern und Stricken gesichert, gespannt zwischen Walnuss- und Kirschbaum, eine Hängematte.
    «Wahnsinn, Klara   … Wahnsinn   …»
    «Na komm   …» Klara nimmt den Lemming an der Hand, zieht ihn mit sich. «Da haben locker drei Leute drin Platz, vielleicht sogar vier   … Nein, Castro, du bist nicht gemeint   …»
    So liegen sie bald im bauchigen Netz und schaukeln leise hin und her: ein pränatales Zwillingspaar, aneinander geschmiegt, ineinander verschlungen. Beschirmt von den schattigen Kronen der Bäume. Im Gras unter ihnen liegt Castro, der Entrechtete, Castro, der Paria. Sein vorwurfsvolles Brummen ist schon nach kurzer Zeit in sanftes, melodisches Schnarchen übergegangen.
    «Dann hast du also frei heut Nacht?», flüstert Klara irgendwann.
    Der Lemming bleibt die Antwort schuldig. Er liegt bereits in Morpheus’ Armen und stimmt seinen Bass, um Castro zu begleiten.

4
    Und wieder so ein brütend heißer Tag, dieser erste September 2003.   Schon jetzt, kurz nach neun, und selbst hier, auf der Strudlhofstiege, die verträumt im gesprenkelten Dämmerlicht dichter Kastanien liegt. Vor nicht ganz hundert Jahren erst erbaut, um die Böschung zum ehemaligen Donauufer zu überbrücken, ist die Stiege nach

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