Das Schweigen des Lemming
schmucklose Tür im Dachgeschoss. Kein Namensschild deutet auf ihren Besitzer hin, nur zwei unauffällige Initialen neben dem Türrahmen:
J. H.
Der Lemming klopft an, wartet ein paar Sekunden, betritt endlich zögernd die Wohnung. Ein enger, dunkler Gang liegt nun vor ihm, an dessen Ende sich eine weitere Tür befindet.
«Hallo? Ist jemand da?»
Und dann wird sie aufgerissen, die Tür, und in der Mitte des jählings erhellten Gevierts kann der Lemming den Umriss eines Mannes erkennen.
«Kommen S’ nur …», sagt der Mann mit sonorer, fast dröhnender Stimme, «kommen S’ nur herein, Herr … Herr …»
«Wallisch …», meint der Lemming. «Ich hab einen Termin beim Herrn … beim Herrn Direktor …»
«Hörtnagl, angenehm. Pünktlich, pünktlich, Herr Wallisch. Auf die Minute. Recht so.» Jochen Hörtnagl tritt zur Seite, um den Weg freizugeben.
War es gerade noch der vermeintliche Strahlenkranz des Magnaten, der den Lemming geblendet hat, so ist es nun der kühl temperierte Raum, der sich vor ihm entfaltet wie eine utopische Landschaft aus Glas und Beton. Von einer einzigen langen Fensterfront umgeben, zieht sich ein lichtdurchflutetes Penthouse über das ganze Gebäude, nur hier und da durchbrochen von mächtigen Stahlkonstruktionen, die, wie es scheint, eine weitere Etage stützen: Im hinteren Teil des Lofts schraubt sich eine breite marmorne Wendeltreppe nach oben. Exquisit, denkt der Lemming, exquisit auch dieMöbel, locker verstreut wie eine dezimierte Mannschaft auf dem Fußballfeld. Das lederne englische Sofa, die futuristischen Mahagonischränke, die offene Küche aus Granit, all das wirkt auserlesen, ja, aber beileibe nicht handverlesen: Zu lieblos ist das Arrangement, zu glatt und unpersönlich das gesamte Interieur, ein Anblick wie aus dem Versandhauskatalog, wenn auch aus dem denkbar teuersten. Nicht anders übrigens als der Hausherr selbst, der dem Lemming jetzt mit einem jovialen Lächeln seine Hand entgegenstreckt. Edel sein Anzug, die glänzenden Schuhe, die grünliche, durchaus dezente Krawatte, edel auch der kurze, graumelierte Bart, der sein Gesicht bedeckt, als wäre er aufgeklebt.
«Kommen S’ weiter, Herr Wallisch.»
Zügigen Schrittes durchquert er, vom Lemming gefolgt, die Halle und steigt die Wendeltreppe hoch.
«Lift gibt’s leider keinen. War zwar kurz angedacht, hat sich aber nicht ausgezahlt … wegen der Statik.»
«Na, wenigstens haben S’ einen im Stiegenhaus», murmelt der Lemming mehr zu sich selbst.
«Natürlich, ja, unser antikes Stück. Dem Ascenseur ist nichts zu schwör, sag ich immer. Eigentlich schrottreif, aber … die alte Dame steht leider unter Denkmalschutz.»
Durch den Ausstieg am Ende der Treppe wird nun eine gläserne Kuppel sichtbar, die sich über die Zwischendecke spannt. Dahinter eine weitläufige Terrasse, ein Dachgarten, allerdings unbegrünt. Auch hier, in der zweiten Etage der Maisonette, setzt sich der Eindruck fort, den der Lemming bereits im Untergeschoss gewonnen hat: ein Eindruck des lustlosen Luxus, der gleichgültig kühlen Gediegenheit. Diese Wohnung, so denkt er, sitzt auf dem alten, gebrechlichen Zinshaus wie eine Krone aus Katzengold.
«So, bitte. Setzen Sie sich.» Jochen Hörtnagl deutet auf einen ledernen Sessel, der vor einem glänzenden Schreibtisch aus Edelstahl steht.
«Danke», murmelt der Lemming. Und dann fällt sein Blick auf die Wand, genauer gesagt auf ein Bild an der Wand, auf ein Gemälde, unter dem nun auch sein Gastgeber Platz nimmt. Und was für ein Bild. Ein riesenhaftes Wüstenbild, ein Feuerbild, eine archaische Landschaft aus brennendem Sand und glutheißer Farbe. Wobei das Gemälde durchaus keine Landschaft
beschreibt
, sondern selbst eine
ist
: Dick und schwer klebt der Sand auf der Leinwand, formt schroffe Gebirge aus Höhen und Tiefen, Schluchten und Graten, die im unteren Drittel des Bildes verflachen, bald endgültig abfallen, um in ein flammendes Meer aus Karminrot zu tauchen.
«Gefällt es Ihnen?», fragt Hörtnagl, ohne sich umzudrehen.
«Sehr … Wirklich sehr …»
«Ein echter Riedmüller. Zweihunderttausend, allerdings Schilling. Er war damals noch Assistent auf der Kunstakademie … Interessieren Sie sich für Kunst?»
«Ein wenig …»
«Schön. Schön. Ja, wenn man mehr Zeit hätte …»
«Natürlich, Herr … Direktor. Ich verstehe …»
Er
glaubt
jedenfalls zu verstehen, der Lemming. In seinen Augen sind Menschen, die ihre kostbare
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