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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Phänomen des Schocks zum Beispiel stellt sich bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten ein, egal, ob es sich um die Nachricht des finanziellen Ruins oder die eines riesigen Lottogewinns, um den plötzlichen Anblick des Todes oder die Kunde der nahenden Vaterschaft handelt. Hiobs- oder Freudenbotschaft, beide zeitigen die gleiche körperliche Wirkung. So wie jetzt beim Lemming: Er steht da wie vom Donner gerührt, den Mund und die Augen weit aufgerissen, während sein Gesicht in allen farblichen Nuancen zwischen Signalrot und Weiß oszilliert.
    «Die Salzgurken   …», stößt er schließlich hervor.
    Klara nickt.
    «Und dieses seltsame
Wir
, gestern am Telefon   …
Wir
fahren jetzt heim   …»
    Klara nickt.
    «Und ich   … Ich meine, du bist   … Ich meine   …
Ich? Ich
hab das gemacht?»
    Klara schüttelt den Kopf.
    «Wer sonst, du Depp?»
    «Mein Gott   …»
    Und da kommt endlich Bewegung in den Lemming. Mit zwei großen Schritten ist er bei Klara. Packt sie an den Armen, hebt sie hoch und wirbelt sie herum, setzt sie dann ab, küsst sie heftig, drückt sie an sich, lässt sie los, dreht eine ungelenke Pirouette und umarmt sie abermals. Aber all das Heben, Wirbeln und Drehen reicht bei weitem nicht aus, um die plötzliche Sturzflut aus Adrenalin in den Griff zu bekommen. Der Herzschlag droht ihm die Brust zu zerreißen; hilflos sucht er nach dem rettenden Ventil, durch das er den Überdruck lindern kann. Und so beginnt er nun gleich einem prall gefüllten, außer Kontrolle geratenen Luftballon durch die Gänge des Warenhauses zu tanzen, fast ebenso entfesselt, aber ohne entsprechende Furzgeräusche. Mit rudernden Armen hüpft und stolpert er auf und ab, bis sein zielloser Lauf jählings endet: Ein Vorhang wird zurückgezogen, aus einer der Umkleidekabinen tritt eine Frau, nicht ahnend, dass sie gleich die Flugbahn des Lemming kreuzen wird. Sie tritt vor den Spiegel und mustert – mürrisch und enttäuscht – das grell geblümte Kleid, das kein einziges Gramm ihres üppigen Körpers kaschiert, als auch schon das Unvermeidliche geschieht: Kollision. Havarie. Glücklicherweise mit Airbag und ohne Verletzte.
    «Herrschaftsseiten noch einmal! Können S’ net aufpassen, Sie   … Sie Dodel?»
    Die Antwort des Lemming lässt nicht auf sich warten. Er strahlt sie an, ergreift ihre Hände und zieht sie an sich, um auch ihr einen dicken, schmatzenden Kuss auf die Wange zu drücken.
    Während die füllige Frau in Richtung Kasse schwebt, um sich das Blümchenkleid nun doch zu kaufen, kehrt der Lemming zuKlara zurück. Er hat sich inzwischen beruhigt, wie es scheint: Sein Gesicht hat wieder einen homogenen, wenn auch leicht rötlichen Farbton angenommen; von seinem manischen Anfall zeugt nur noch ein breites, leicht entrücktes Grinsen.
    «Verzeih, es geht schon wieder, ich war nur ein bisserl   … Aber jetzt sag schon, was brauchen wir alles? Was müssen wir besorgen? Windeln, nehm ich an, und Spielzeug   … Und dann natürlich so ganz kleine Schuhe   … Ich weiß ja nicht, das ist ja mein   … mein erstes Mal   …»
    «Meines auch, Poldi», lacht Klara auf, «meines auch. Aber eines weiß ich ganz sicher, nämlich, dass uns noch Zeit bleibt für die ersten Schuhe. Du wirst ja dein Amt als Vater erst im nächsten Frühling antreten, mein Lieber   … Und dann dauert’s immer noch eine ganze Weile, bis es laufen kann, das Kleine   … Obwohl   … Bei unseren perfekten Genen könnt es auch ein wenig schneller gehen   …»
    Jetzt brechen sie beide in Gelächter aus.
    «Weißt du was?», meint der Lemming, während er sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Auge wischt. «Lass uns jetzt noch rasch dein Hemd kaufen und dann hinausfahren, nach Ottakring. Wir müssen das   … Wir müssen das sofort dem Castro erzählen. Und dann lassen wir die Korken knallen – nein, um Himmels willen, Blödsinn! Ganz im Gegenteil, ich koch dir was, irgendetwas Gesundes   …»
    «Aber geh, ich bin doch nicht krank, Poldi   …»
    «Trotzdem, trotzdem   … Du musst jetzt gut auf dich Acht geben. Hühnersuppe, sag ich nur; du weißt schon, jüdisches Penicillin: ein Rezept von meiner Großmutter selig   …»
    «Meinetwegen   … Wenn’s als Beilage Salzgurken gibt   …»
    Träume nach vorwärts
, hat Ernst Bloch einmal geschrieben. Den zwingenden Nachsatz, die logische
Reservatio mentalis
hat der deutsche Philosoph leider nicht zu Papier gebracht: Träume nach vorwärts, aber träume nie von

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