Das Schweigen des Lemming
letzten zwei Tage entlädt sich nun endlich; die Sorgen, Zweifel und Bedenken, dieses stete Gefühl, behindert, benutzt und betrogen zu werden – betrogen von
ihm,
wohlgemerkt, von Hörtnagl, von seinem eigenen Auftraggeber –, all das sprudelt jetzt aus ihm heraus, ungefiltert und ungebremst. Von der verwüsteten Wohnung Pokornys berichtet er, von seiner Flucht vor Florian und dessen zerstrittenen Kommilitonen, von der Verfolgung durch Walla und Pekarek und – als Krönung der vorwurfsvollen Tirade – von seiner Begegnung mit dem Vergaser, mit dem widerlichen Otto Plessel.
«Und da», kommt der Lemming zum Schluss seiner wortreichen Anklage, «da hat sich mein Verdacht bestätigt! Von Anfang an hab ich den Eindruck gehabt, dass Sie den Pokorny aus vollkommen anderen Gründen suchen! Dass es Ihnen gar nicht um die Schweinerei im Tiergarten geht, um diesen … diesen erdrosselten Pinguin!»
Dunkel ist es im Raum. Und mit einem Mal wird es noch düsterer: Eine Wolke scheint sich draußen vor die Sonne zuschieben – die erste Wolke seit Wochen. Die beiden Männer stehen im Dämmerlicht und mustern einander mit unverhohlener Feindseligkeit.
«Sind Sie jetzt fertig?», fragt Jochen Hörtnagl schließlich. «Gut. In Ordnung. Was Ihre Eindrücke betrifft, Herr Wallisch: Wie viel die wert sind, kann man ohnehin am Erfolg Ihrer Arbeit sehen … Aber bitte, geschenkt. Von mir aus können Sie das Geld behalten. Und der Pokorny interessiert mich auch nicht mehr. Die Sache hat sich erledigt, wie gesagt … Sie müssen nämlich wissen, dass ich auch nur ein Mensch bin. Und dass ich gestern meinen einzigen Sohn verloren habe …»
Hörtnagl wendet sich ab und geht langsam zum Sofa zurück. Er lässt sich erschöpft auf die Kissen sinken und betrachtet die aufgeschlagene Zeitung auf dem Couchtisch. «Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?», sagt er dann, ohne den Kopf zu heben.
«Ja … Natürlich …», murmelt der Lemming.
«Hat er … Also hat der Florian Ihnen irgendwas … erzählt? Ich meine, hat er noch etwas gesagt, bevor er … bevor er da … abgerutscht ist?»
Ein gramgebeugter Rücken, ein kummervoller Blick, und der Lemming ist wieder der Alte: Er kann es einfach nicht, er bringt es nicht übers Herz, Jochen Hörtnagl die ganze Wahrheit anzutun …
«Nein. Er hat nichts gesagt … Wir sind nicht dazu gekommen, uns zu unterhalten. Er ist plötzlich aus der Galerie gelaufen, ich hinterher … Das war alles.»
«Gut … Gut …» Hörtnagl seufzt. Er greift in sein Sakko, als suche er ein Taschentuch, und zieht stattdessen ein weißes Kuvert heraus. Genau so eines wie am Montagvormittag.
«Das Leben ist schon eine seltsame Sache … Eine Prüfung, Herr Wallisch, eine schwere Prüfung manchmal … Und jetzt geht es weiter, das Leben: Sie kehren in Ihren alten Job zurück, und ich mach wieder den meinen …»
Achtlos lässt er den Umschlag auf die Glasplatte gleiten, um ihn dann – mit einem Finger – in die Mitte des Tisches zu schieben.
«Ich weiß, Herr Wallisch, dass es manchmal Überwindung kostet, die Toten ruhen zu lassen und die Dinge zu vergessen. Auch wenn sie unerledigt sind, die Dinge, ungeklärt, und ganz besonders, wenn man ein gewissenhafter Mann ist, so wie Sie … Da braucht es vielleicht einen Anreiz … Ich schlage vor, Sie betrachten das als kleines Dankeschön für Ihre Unannehmlichkeiten …»
Jochen Hörtnagl steht auf und nickt dem Lemming zu.
«Viel Glück, Herr Wallisch …»
Ohne ein weiteres Wort durchquert er den Raum, steigt die Wendeltreppe hinauf und verschwindet im Obergeschoss. Der Lemming blickt ihm lange nach. Minuten später erst dreht er sich um und geht stumm aus der Wohnung. Ohne Antwort und ohne Kuvert.
21
«Schlecht schaust du aus …» Klara sieht den Lemming von der Seite an und verlangsamt ihre Schritte. «Bist du auch wirklich in Ordnung?»
«Ja … Es geht schon. Das war nur alles ein bisserl viel für mich …»
Kurz nach seinem Besuch beim alten Hörtnagl haben die beiden telefoniert, um sich zu verabreden. Klara hat gemeint, sie müsse noch die eine oder andere Besorgung machen – verschiedene Dinge wie Wäsche, Tee und Badesalz –, also haben sie einander da getroffen, wo man einkaufen geht, wenn man nicht so recht weiß, was man einkaufen will: im siebenten Bezirk, auf der Mariahilfer Straße. Hier reiht sich Geschäft an Geschäft, Boutique an Boutique; zwischen
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