Das Schweigen des Lemming
meiner Dienste übernehmen …» Pokorny lächelt müde, stellt seinen Koffer ab und geht langsam auf den Lemming zu. Der weicht zurück, bis er die Kante des Tisches im Rücken spürt.
«Bleib stehen, du! Ich warn dich, bleib mir ja vom Leib!»
Kurz hält Pokorny inne und mustert den Lemming. Dann aber beugt er sich über den Tisch, um das Fenster zu schließen.
«Was hast denn, Wallisch? Geht’s dir net gut?»
Ein weiterer, fragender Blick, überrascht und besorgt: ja, ehrlich besorgt, wie es scheint.
«Ich hab gehört, du bist auf der Suche nach mir … Hab übrigens gar nicht gewusst, dass du ihn auch kennst, den Herrmann Riedmüller … Darf man fragen, was du von mir wolltest? Oder hast dir nur Sorgen g’macht, dass du statt meiner gleich wieder zum Handkuss kommst mit dem Nachtdienst?»
Pokorny bückt sich, stellt den umgestürzten Stuhl wieder auf, holt einen zweiten aus der Zimmerecke und setzt sich.
«Also sag schon, was ist los?»
«Viel …», murmelt der Lemming. «Viel ist los. Aber vielleicht kannst du mir’s ja sagen …»
«Was denn? Was soll ich dir sagen?»
«Was los ist. Was passiert ist. Zum Beispiel … das mit dem Pinguin …»
«Pinguin?»
«Jetzt komm schon, du hast mich ganz richtig verstanden: der erdrosselte Pinguin im Polarium. Abgemurkst, zu Tode gequält in der Nacht, nachdem du verschwunden bist …»
Ein weiterer, heftiger Blitz erhellt den Raum. Pokornys Kinnlade klappt herunter, seine Augen treten in ihre Höhlen zurück. In der kurzen Spanne zwischen Blitz und Donner geht eine krasse Verwandlung mit ihm vor: Als das ohrenbetäubende Grollen verhallt, scheint er um Jahre gealtert zu sein.
«Das Mistschwein … Die Drecksau … hat’s wirklich getan …»
«Wer?» Der Lemming setzt sich nun auch. «Sag schon, Pokorny: Wen meinst du?»
Statt einer Antwort greift Pokorny in sein kariertes, ein wenig zu großes Jackett und zieht einen Gegenstand heraus. Reicht ihn dem Lemming, wortlos und ohne ihn anzusehen.
Es ist ein Pinguin. Handlich und flauschig, ein Stofftier, wie man es auch im Andenkenladen des Zoos erstehen kann. Den Zustand jedoch, in dem sich das Spielzeug befindet, kann man nicht gerade als marktgerecht bezeichnen, im Gegenteil, selbst auf dem Flohmarkt würde es so keinen Cent mehr erzielen.
Der Kopf des kleinen Vogels ist so brutal auf den Rücken gedreht, dass zwei seiner Nähte geplatzt sind; das linke der beiden Knopfaugen fehlt, es ist zweifelsohne herausgerissen worden: Ein Büschel kurzer Fasern steht nun aus der leeren Augenhöhle. Um den Hals aber liegt eine fest verknotete Schlinge; das Ende der Schnur hängt lose herab.
«Scheiße … Scheiße, Pokorny …»
Der Lemming dreht und wendet das Plüschtier in seinen Händen, bis er die Inschrift entdeckt, die Botschaft, die jemand mit schwarzen Lettern auf den Bauch des Pinguins geschrieben hat.
SALZ ODER TRÄNEN!
«Salz oder Tränen …», murmelt der Lemming und sieht Pokorny fragend an. «Was soll das heißen: Salz oder Tränen?»
Pokorny schüttelt den Kopf. Greift abermals in seine Jacke, um ein fleckiges, sichtlich schon öfter benutztes Taschentuch herauszuziehen. Wischt sich über die Stirn, den Mund, die große, gerötete Nase.
«Zwei Fragen …», beginnt er jetzt stockend, «zwei Fragen, Wallisch … Und ich kann dir keine der beiden beantworten … Die erste nicht, weil ich’s nicht weiß, nicht genau jedenfalls. Ich weiß weder, wer mir das … das Ding da geschickt hat, noch, wer … Die Sache im Pinguinhaus … Sag, welcher … Welcher war es denn?»
«Welcher was?»
«Na, welcher von den Vögeln? Welchen hat es erwischt?»
«Net bös sein, Pokorny, aber … Namentlich kenn ich die nicht …»
«Schon klar … Schon klar, entschuldige …» Pokorny senkt den Kopf und verfällt in Schweigen.
«Und die zweite Frage?», hakt der Lemming nach. «Warum? Warum das alles?»
«Ich … Ich kann’s dir nicht sagen, Wallisch … Ich tät schon gern, aber ich kann nicht: ein Versprechen, verstehst du?»
«Ein Versprechen. Ein Versprechen also.» Der Lemming springt ärgerlich auf. «Sag, ist dir eigentlich klar, was noch alles passiert ist? Ist dir das überhaupt bewusst? Ich sag nur: Riedmüller! Beide Hände gebrochen!»
«Hab ich in der Zeitung gelesen …»
«Und gestern? Florian Hörtnagl? Der Bub hat sich umgebracht, verstehst? Umgebracht! Und ich fress einen Besen, wenn das
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